Hasan Ocak war 30 Jahre alt, als er am 21. März 1995 festgenommen und in der „Obhut“ des türkischen Staates zu Tode gefoltert wurde. Für ihn legten die Samstagsmütter heute rote Nelken auf dem Istanbuler Galatasaray-Platz nieder. Es war die 1043. Mahnwache der Initiative, an der sich aufgrund einer – laut dem Verfassungsgericht rechtswidrigen – Anordnung der Behörden wieder nur zehn Personen beteiligen durften. Unter den Teilnehmenden war auch Maside Ocak. Sie forderte die türkische Justiz im Hinblick auf eine drohende Verjährung des Mordes an ihrem Bruder auf, den Fall als Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzustufen und damit zu einer unverjährbaren Straftat zu erklären. Andernfalls könnten die Verantwortlichen des Mordes niemals zur Rechenschaft gezogen werden. Die Aktivistin Ikbal Eren stellte den Fall Hasan Ocak vor.

Foltertod erst nach Auffinden der Leiche anerkannt
Hasan Ocak war Gymnasiallehrer, stammte gebürtig aus dem kurdischen Dersim, und betrieb in Istanbul eine Teestube, als er an Newroz vor 30 Jahren während der Unruhen in Gazi festgenommen wurde. Nach seinem Verschwinden wurde sein Leichnam in einem Waldgebiet abgeworfen und später auf einem „Friedhof für Namenlose“ entdeckt. Das Ergebnis der Autopsie zeigte deutlich, dass er durch einen Strick um den Hals ermordet wurde. Sein Körper wies zudem Verbrennungen durch Strom und Schnitte im Gesicht auf, an seinen Fingern haftete noch die blaue Farbe, mit der ihm in Gewahrsam Abdrücke genommen wurden. Bis zu diesem Zeitpunkt leugnete der Staat seine Festnahme – trotz Zeugen, die ihm auf der Wache begegnet waren und seinen Namen auf einer Festnahmeliste gesehen hatten. Erst mit dem Auftauchen der Leiche sah sich der damalige Minister für Menschenrechte gezwungen, den Foltertod Hasan Ocaks anzuerkennen. Die Täter wurden dennoch nicht verfolgt.
Beginn der Mahnwache der Samstagsmütter
Hasan Ocaks Mutter Emine Ocak war es, die am 27. Mai 1995 zum ersten Mal auf dem Galatasaray-Platz in der Istanbuler Innenstadt demonstrierte – und damit die am längsten andauernde Aktion zivilen Ungehorsams in der Türkei einleitete. Ihre Sitzaktion war der erste Schritt, um den Protest gegen die Praxis des „Verschwindenlassens” in dem Land öffentlich zu machen und neue Fälle von Verschwundenen zu verhindern. Von da an versammelten sich jeden Samstag immer mehr Menschen um 12 Uhr auf dem Galatasaray-Platz, friedlich, schweigend, mit Fotos ihrer „Verschwundenen“, um auf diese Weise für eine halbe Stunde ihre Forderung sichtbar zu machen: die Verbrechen aufklären und die Schuldigen vor Gericht bringen. Sie machten es wie die Mütter und Großmütter in Argentinien, die in der dunkelsten Zeit der Militärdiktatur regelmäßig die Plaza de Mayo umrundeten. Die Presse gab ihnen den Namen „Samstagsmütter“.
Emine Ocak: Kämpfen, um die Blockade zu durchbrechen
Emine Ocak, inzwischen 89 Jahre alt, ließ sich heute aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen durch ihre Altersschwäche entschuldigen, schickte über ihre Tochter aber mahnende Worte: „Ihr Herz blutet bei dem Gedanken, dass wir nur zu zehnt hier stehen dürfen, zudem noch vor einem abgesperrten Galatasaray-Platz. Sie fordert, dass wir um unseren Platz, unseren angestammten Ort, kämpfen und die Blockade durchbrechen“, betonte Maside Ocak. Auch sie forderte eine Einstufung des Mordes an ihrem Bruder als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Vor Ort war auch die Rechtsanwältin Eren Keskin, die Ko-Vorsitzende des Menschenrechtsvereins IHD ist und die Familie Ocak seit Jahrzehnten bei ihrem juristischen Kampf zur Ermittlung der Mörder von Hasan Ocak und ihrer Ahndung begleitet.

Mord in wenigen Tagen faktisch verjährt
Vor türkischen Gerichten war in Sachen Gerechtigkeit kein Erfolg errungen worden, deshalb zog die Familie vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Die Straßburger Richter verurteilten Ankara im Zusammenhang mit dem Tod Hasan Ocaks im Jahr 2004 wegen einem Verstoß gegen Artikel 2 der Menschenrechtskonvention, der das Recht auf Leben garantiert, und rügten, dass die Behörden nicht unabhängig waren und ihre Verpflichtung zur Aufklärung nicht erfüllt hatten. Zwölf Jahre später versuchte ein Staatsanwalt die Akte Ocak wegen Verjährung zu schließen. Dagegen konnten sich seine Angehörigen erfolgreich durchsetzen und ein Wiederaufnahmeverfahren erwirken. Seit 2017 hat sich allerdings nichts getan. Der Staat weigert sich nach wie vor, eine juristische Aufarbeitung in dem Fall zuzulassen und seine Täter preiszugeben. Und da im türkischen Strafgesetz die Verjährung bei Straftaten, die mit lebenslanger verschärfter Haft bedroht sind, nach 30 Jahren eintritt, befürchten die Samstagsmütter, dass der Tod von Hasan Ocak ungesühnt bleibt.