1000 Wochen Samstagsmütter
Diese Woche findet der 1000. Protest der Initiative der Samstagsmütter in Istanbul statt. Mit der Samstagsmahnwache fordern Angehörige von Verschwundenen und ihre Unterstützer:innen Gerechtigkeit für die unzähligen in der Türkei in Haft Verschollenen. Diese Menschen wurden von Staatsorganen verschleppt, gefoltert, ermordet und anschließend verscharrt, in Säurebrunnen geworfen oder in Fundamente von Militäranlagen einbetoniert. Die Angehörigen legen den Finger in eine tiefe Wunde und so kommt es nicht von ungefähr, dass die Samstagsmütter immer wieder mit Repressalien überzogen wurden. Seit der 700. Woche wurden die Proteste immer wieder angegriffen. Am 25. August 2018 hatte der damalige türkische Innenminister Süleyman Soylu die Mahnwache auf dem Galatasaray-Platz verbieten lassen.
Verbot war Rechtsbruch – Teilnahmebeschränkung ist es ebenso
Obwohl der Verfassungsgerichtshof diese Entscheidung als Rechtsverletzung einstufte, ging die Repression weiter und teilweise über 80 Jahre alte Mütter wurden mit auf dem Rücken gefesselten Händen vom Platz geschleift. Doch die Beharrlichkeit der Samstagsmütter konnte schließlich die Kundgebung wieder durchsetzen. Die Willkür dauert jedoch an. So soll insbesondere bei der 1000. Mahnwache die Teilnehmendenzahl auf zehn Personen beschränkt werden. Maside Ocak, die Schwester des „Verschwundenen“ Hasan Ocak, äußerte sich im ANF-Gespräch zu der bevorstehenden Kundgebung und zum Protest der Samstagsmütter, Angehörigen und ihrer Unterstützer:innen.
Ein Tag, den sie nie vergessen würde …
Ihr Bruder, der kurdische Lehrer Hasan Ocak, verschwand am 21. März 1995 nach seiner Festnahme. Seine Familie kämpft bis heute um Gerechtigkeit. Das Leben der damals 19-jährigen Maside und ihrer lebensfrohen Familie änderte sich von einem Tag auf den anderen. Maside Ocak sagte: „Hasan war Lehrer, er erhielt aber keine Ernennung. Also betrieb er ein Teehaus in einem Geschäftsviertel in Beyazıt. Er stand jeden Morgen um 5.30 Uhr auf und ging zur Arbeit. Am 21. März ging er wie jeden Morgen, ohne mich zu wecken, zur Arbeit. Während ich in der Schule war, rief er meine Mutter an und sagte ihr, dass er am Abend Fisch mit nach Hause bringen würde. An diesem Tag hatte meine Schwester Aysel Geburtstag. Meine Mutter hatte Suppe und Salat vorbereitet, wir warteten bis zum späten Abend, aber Hasan kam nicht nach Hause.“
„Obwohl es Zeugen gab, wurde seine Festnahme geleugnet“
Maside Ocak berichtete, noch am selben Abend sei klar gewesen, dass etwas nicht stimmte. Zunächst habe die Familie Krankenhäuser aufgesucht, am folgenden Tag rief sie bei der Polizei an. Damals lag die Gewahrsamsdauer bei 15 Tagen und es kam häufig vor, dass Festnahmen bis zu sechs Tage lang verleugnet wurden. Ocak weiter: „Nach einem Hin und Her zwischen der Polizei, der Staatsanwaltschaft und den Staatssicherheitsgerichten (DGM) gaben wir am 30. April 1995 öffentlich bekannt, dass Hasan verschwunden sei. Trotz des öffentlichen Drucks und der Zeugen, die bestätigten, dass Hasan festgenommen worden war, wurde seine Festnahme vom damaligen Innenminister Nahit Menteşe, dem Istanbuler Gouverneur Hayri Kozakçıoğlu, dem Polizeigeneraldirektor Mehmet Ağar und dem Istanbuler Polizeichef Necdet Menzir bestritten.“
Beweise für Festnahme
Nach 58 Tagen beharrlicher Suche wurde die Leiche von Hasan Ocak mit schweren Folterspuren auf einem anonymen Friedhof in Altınşehir gefunden. Maside Ocak sagte, im Fundbericht sei festgehalten, dass er keinen Ausweis, keinen Gürtel, keine Uhr und keine Schnürsenkel bei sich hatte und dass sich Tintenflecken an seinen Fingern befanden, was ein eindeutiger Beweis dafür sei, dass er in Gewahrsam war.
„Hasan hatte uns immer Sicherheit gegeben“
Während der Kampagne zur Auffindung ihres Bruders lernte Maside Ocak die Angehörigen anderer „Verschwundener“ kennen. Inspiriert von den argentinischen Müttern der Plaza de Mayo begannen die Samstagsmütter mit einer stillen Mahnwache am Galatasaray-Platz. Seitdem sind 1000 Wochen vergangen. Ocak sagte: „Hasan war für uns alle ein Hafen der Zuflucht. Er war unser Vertrauter. In unserem Haus gab es keine Streitereien oder Auseinandersetzungen, es gab immer den Klang von Hasans Saz und die Volkslieder, die wir sangen. Wir waren so eine Familie. Wir wollen, dass alle unsere Verschwundenen gefunden werden und dass der Gerechtigkeit Genüge getan wird. Unsere Trauer wird mit dem Ende der Straflosigkeit und einem Grab für unsere Vermissten enden. Unser Leben wird durch das Fehlen von Gräbern und Straflosigkeit bestimmt. Denn wir sind hier, weil es keine Gräber und Straflosigkeit gibt. Wir werden unseren Kampf nicht aufgeben, bis der Gerechtigkeit Genüge getan ist.“
„Wir wollen, dass alle auf dem Galatasaray-Platz ihr Recht fordern können“
Die Teilnahme an der 1000. Mahnwache an diesem Samstag wurde vom Gouverneursamt auf zehn Personen begrenzt und soll hinter Polizeiabsperrungen stattfinden. Ocak kommentierte: „Es ist in unserem Land so weit gekommen, dass wir den Staat und die Regierung auffordern müssen, sich an das Gesetz zu halten. Wie bei unserem Protest in der 699. Woche wollen wir die Öffnung der Polizeiabsperrungen und ein Ende der Beschränkung auf zehn Personen. Wegen dieser Beschränkung können viele Angehörige der Verschwundenen die Bilder ihrer Angehörigen nicht dort zeigen. Mit der Beschränkung auf zehn Personen wird den Familien der Verschwundenen vermittelt, dass nur zehn Angehörige der Verschwundenen das Recht haben, Informationen über den Verbleib ihrer in Haft verschwundenen Angehörigen zu verlangen. Das ist eine enorme Gewissensbelastung für uns. Wir wollen so etwas nicht erleben und wir wollen, dass sich alle Angehörigen der Verschwundenen auf dem Galatasaray-Platz treffen und die Bilder ihrer Angehörigen mitbringen können.“