Samstagsmütter erinnern an Sabahattin Ali

Die Istanbuler Initiative der Samstagsmütter hat bei ihrer 993. Mahnwache gegen das Verschwindenlassen Aufklärung über das Schicksal von Sabahattin Ali gefordert. Der sozialistische Schriftsteller und Dichter wurde 1948 auf der Flucht ins Exil ermordet.

Tod in staatlichem Gewahrsam

Die Initiative der Samstagsmütter hat bei ihrer 993. Mahnwache gegen das „Verschwindenlassen“ in staatlichem Gewahrsam auf dem Galatasaray-Platz in Istanbul Aufklärung über das Schicksal von Sabahattin Ali gefordert. Der sozialistische Schriftsteller, Dichter und Journalist wurde vor 76 Jahren auf der Flucht ins Exil an der bulgarischen Grenze ermordet. Bis heute ist ungeklärt, ob er einem Raubmord oder einem politischen Anschlag zum Opfer fiel.

Sabahattin Ali wurde 1907 in Gümülcine im heutigen Nordgriechenland geboren. Er gilt als Großmeister der türkischen Prosa: seine Werke gehören zu den Klassikern der literarischen Moderne, sein letzter Roman von 1943 „Die Madonna im Pelzmantel“ („Kürk Mantolu Madonna“) ist eines der meistgelesenen Bücher in der Türkei. Von 1928 bis 1930 studierte er in Deutschland und arbeitete später als Deutschlehrer in der Türkei.

Ali musste zeitlebens gegen die staatliche Zensur kämpfen, 1932 wurde er wegen eines Satire-Gedichts über Atatürk für ein Jahr inhaftiert. Die von ihm und dem jungen Aziz Nesin ab 1944 herausgegebene Satirezeitschrift „Marko Paşa“ wurde schon Ende 1946 verboten, zusammen mit der sozialistischen Partei und allen ihr nahestehenden Zeitungen und Zeitschriften. Nach neuerlichen Haftstrafen, zermürbt von Zensur und Verfolgung, versuchte Ali 1948, über die türkische Grenze nach Bulgarien zu fliehen.

Sebla Arcan vom IHD trägt ein Bild Sabahattin Alis, während sie von seiner Vita berichtet (c) MA

Als ein Hirte am 2. April 1948 Alis übel zugerichtete Leiche in der Ortschaft Kırklareli nahe Bulgariens fand, präsentierte das Regime in Ankara schnell einen Täter: ein angeblicher Fluchthelfer, der den Dichter aus nationalen Gefühlen getötet habe. Laut dessen Aussage seien sie auf einem Lastwagen nach Kırklareli gefahren, um weiter nach Edirne zu kommen. Sabahattin Ali hätte auf eine kommunistische Revolution in der Türkei hingearbeitet und den Täter provoziert, bis dieser ihn mit einem Stock zu Tode geprügelt hätte. Der Mann wurde 1950 symbolisch zu vier Jahren Haft verurteilt, konnte aber von einem im gleichen Jahr beschlossenen Amnestiegesetz profitieren – und einer Villa, die er als Belohnung vom Staat erhielt.

Die genauen Umstände des Todes von Sabahattin Ali hat man nie ganz klären können – oder wollen. Heute wird vermutet, dass der Dichter und Denker unter der Folter der türkischen Geheimpolizei in Kırklareli starb und diese seine Leiche dann an die Grenze brachte, um den Foltertod zu vertuschen und stattdessen einen Mord durch den vermeintlich staatstreuen und antikommunistischen Fluchthelfer zu fingieren. Davon sind auch die Samstagsmütter überzeugt, die bei ihrer heutigen Mahnwache von der Istanbuler DEM-Abgeordneten Özgür Saki, dem Ko-Sprecher der DEM-Kommission für Sprache, Kultur und Kunst, Kerem Fırtına, und der Rechtsanwältin Eren Keskin unterstützt wurden.

Rote Nelken für Sabahattin Ali (c) MA

Sebla Arcan, die zum Vorstand der Istanbuler Zweigstelle des Menschenrechtsvereins IHD gehört, erklärte im Namen der Samstagsmütter: „76 Jahre Ungerechtigkeit müssen ein Ende haben. Es muss Klarheit herrschen über die genauen Todesumstände von Sabahattin Ali und auch dem Ort, an dem seine Gebeine verscharrt wurden. Der Staat muss seine Archive öffnen. Wir fordern insbesondere die Offenlegung von Akten der Geheimpolizei. Denn solange eine Regierung es unterlässt, die notwendigen Schritte zu unternehmen, um vergangene Fälle vom gewaltsamen Verschwindenlassen zu untersuchen und die Täter zu benennen sowie zu bestrafen, bedeutet dies, künftige Verbrechen zu legitimieren. Das werden wir nicht akzeptieren.“ Zum Ende der Zusammenkunft legten die Beteiligten rote Nelken für Sabahattin Ali auf dem Galatasaray-Platz nieder.