Staatliches Verschwindenlassen
Die Istanbuler Initiative der Samstagsmütter hat bei ihrer 990. Mahnwache gegen das „Verschwindenlassen“ in staatlichem Gewahrsam Aufklärung über das Schicksal von Yusuf Erişti gefordert. Der politisch links gerichtete Türke aus Reşadiye in der Provinz Tokat war nach dem Militärputsch im September 1980 verhaftet worden und hatte zwei Jahre im Gefängnis verbracht, wo er schwer gefoltert worden. Auch nach seiner Freilassung blieb er weiter unter Aufsicht der Polizei, wurde immer wieder vorübergehend festgenommen und misshandelt. Am 14. März 1991 war Yusuf Erişti mit Freunden in Istanbul, wo er schon länger lebte, verabredet. Bei dem Treffen im Stadtteil Zeytinburnu kam er jedoch nicht an. Er wurde noch auf dem Weg zum Treffpunkt festgenommen und zur politischen Polizei Gayrettepe gebracht. Das Revier galt damals als berüchtigtes Folterzentrum.
Polizei leugnet Festnahme
Eriştis Anwältin Fethiye Pekşen wusste um den Umgang der Polizei mit ihrem Mandanten. Um nichts dem Zufall zu überlassen, erwirkte sie bei einem Staatssicherheitsgericht (DGM, mittlerweile abgeschafft) eine Besuchserlaubnis. Doch auf dem Revier zeigte man sich unbeeindruckt und verweigerte einen Kontakt zwischen Pekşen und Erişti. Nachdem mehrere Versuche erfolglos verliefen, den Mandantenbesuch durchzuführen, stellte die Juristin am 29. März 1991 eine Strafanzeige gegen die verantwortlichen Beamten. Die Reaktion der Polizei ließ zwar nicht lange auf sich warten, aber mit dem Vorgehen hatte Pekşen nicht gerechnet: Die Polizei leugnete nun, Yusuf Erişti in Gewahrsam genommen zu haben.
Zeugen: Yusuf Erişti wurde schwer gefoltert
Tage später machten mehrere Personen, die am selben Tag wie Erişti festgenommen und sich inzwischen im Istanbuler Bayrampaşa-Gefängnis über ihre Rechtsvertretung öffentlich, den damals 30-Jährigen in die Gayrettepe-Wache gesehen zu haben. Yusuf Erişti sei schwer gefoltert worden, hieß es einstimmig. Einer der Zeugen gab an, am 17. März 1991 beobachtet zu haben, wie Erişti nach einer Foltertortur „komatös wirkend“ in eine Arrestzelle geschleift wurde. Im Mai desselben Jahres meldete sich ein Student aus Istanbul öffentlich zu Wort, der bei einer Demonstration zum internationalen Tag der Arbeit festgenommen und tagelang in Gewahrsam gefoltert wurde. „Sie drohten mir an, mich auf die gleiche Weise wie Yusuf Erişti zu töten und verschwinden zu lassen. Niemand würde je erfahren, was mir passiert sei“, zitierten Zeitungen den jungen Mann.
Rote Nelken für Yusuf Erişti auf dem Galatasaray-Platz (c) MA
Staat leugnet ebenfalls Festnahme
Der kurdische Politiker Mahmut Alınak, der damals Abgeordneter der HEP/SHP war, fragte bei der türkischen Regierung nach dem Schicksal von Erişti. Die Antwort des damaligen Innenministers Abdulkadir Aksu lautete: „Yusuf Erişti wurde nicht festgenommen. Die in der Anfrage behaupteten Sachverhalte haben nichts mit der Realität zu tun.“ Weitere Schritte zur Aufklärung des Verbleibs des Mannes unternahmen die Angehörigen Eriştis. Sein Vater wandte sich an den damaligen Präsidenten und den Premierminister sowie alle im Parlament vertretene Parteien, wurde mehr als dreißig Mal bei der Istanbuler Staatsanwaltschaft mit einem Antrag vorstellig, ein Ermittlungsverfahren zum Vermisstenfall Yusuf zu eröffnen. „Doch alles war vergeblich“, sagte die Aktivistin Fatma Aslan, die den Fall vorstellte. „Die Anzeigen und Bitten blieben unbeachtet, es wurden keine Ermittlungen eingeleitet. Diejenigen, die Yusuf verschwinden ließen, wurden mit Straflosigkeit belohnt.“