Demirtaş: Debatte über das EGMR-Urteil ist beschämend

In einem der 122 Strafverfahren gegen Selahattin Demirtaş hat der ehemalige HDP-Vorsitzende vor Gericht die Debatte in der Türkei um die Verbindlichkeit von Urteilen des europäischen Menschengerichtshof als beschämend bezeichnet.

In Istanbul hat die Hauptverhandlung in einem der zahlreichen Strafverfahren gegen den ehemaligen HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş stattgefunden. Der kurdische Politiker ist in diesem Verfahren wegen Beleidigung des ehemaligen türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu angeklagt.

Im Vorfeld der Gerichtsverhandlung forderte der Provinzverband der Demokratischen Partei der Völker (HDP) vor dem Justizgebäude in Çağlayan die sofortige Umsetzung des EGMR-Urteils vom 22. Dezember 2020. In dem Urteil hatte der europäische Menschengerichtshof erneut entschieden, dass die Inhaftierung von Demirtaş politisch motiviert war und er sofort freigelassen werden muss.

Demirtaş nahm an der Gerichtsverhandlung über eine Videoschaltung aus dem Gefängnis Edirne teil, in dem er seit über vier Jahren als politische Geisel festgehalten wird. Der Prozess wurde von zahlreichen Politikerinnen und Politikern der HDP und DBP beobachtet.

Zu Beginn seiner Aussage stellte Demirtaş fest, dass ihm juristischer Beistand mit Verweis auf die Pandemie verweigert wird. Seit März vergangenen Jahres können keine direkten Anwaltsgespräche mehr geführt werden, Unterlagen werden mit mehrtägiger Verspätung ausgehändigt, erklärte Demirtaş. Er bemängelte weiter, dass die Gewaltenteilung in der Türkei faktisch aufgehoben ist und „die Person an der Spitze der Exekutive“ der Justiz den Befehl erteilt habe, die Gesetzgebung in seinem Fall nicht anzuwenden.

Zum EGMR-Urteil erklärte Demirtaş: „Seit über einem Monat wird darüber debattiert, ob Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verbindlich sind. Und wer diskutiert darüber? Die Exekutive, der Präsident und die Minister. Diese Diskussion über die Verbindlichkeit von EGMR-Urteilen ist beschämend.“

Der ehemalige HDP-Vorsitzende wies darauf hin, dass der EGMR sehr schwerwiegende Rechtsverletzungen festgestellt hat: „Der Menschengerichtshof sagt, dass die Regierung bei den Wahlen und beim Referandum einen Konkurrenten ausschalten wollte. Dass ich weiter inhaftiert bin, stellt eine große Straftat dar. Das Gericht soll dabei zum Mittäter gemacht werden. Gegen mich sind 122 Verfahren eingeleitet worden. Ich fordere vom Gericht die Feststellung, dass ich als politischer Gefangener festgehalten werden. Dieses Verfahren muss eingestellt werden.“

In seiner Erklärung ging Demirtaş auch auf die Proteste an den Universitäten in der Türkei ein und erklärte: „Ich grüße die Studierenden der Boğaziçi-Universität. Das Recht auf Protest ist verfassungsrechtlich und gesetzlich garantiert. Gestern haben wir im Fernsehen die polizeiliche Intervention gegen die Studierenden verfolgt. Zehn Polizisten gehen gegen eine Person vor, einer schlägt mit der Faust zu. Wird jetzt ein Verfahren gegen mich eingeleitet, weil ich das zur Sprache bringe, oder gegen diejenigen, die so vorgehen?“

Zuletzt grüßte Demirtaş auch die Hungerstreikenden in den Gefängnissen. Die Verhandlung wurde auf den 26. Mai vertagt.