Nach drei Verhandlungstagen im Prozess gegen den kurdischen Politiker Selahattin Demirtaş in Ankara ist die Verhandlung auf den 27. Mai vertagt worden. Der ehemalige Ko-Vorsitzende der Demokratischen Partei der Völker (HDP) hat sich über eine Videoschaltung aus dem Hochsicherheitsgefängnis in Edirne ausführlich den Vorwürfen gegen ihn geäußert. Inhaltlich ging es dabei um Reden, die Demirtaş in seiner damaligen Funktion als Parteivorsitzender während der blutigen Belagerung ganzer Stadtviertel in Nordkurdistan durch türkische Sicherheitskräfte 2015 gehalten hat.
So erklärte Selahattin Demirtaş zu seiner Verteidigung: „Politiker sind der Bevölkerung gegenüber verpflichtet, politische Lösungen zu finden. In dieser Hinsicht betrachte ich mich als verantwortlich. Ich bin jedoch sicher, dass ich nichts getan habe, für das ich in gesetzlicher Hinsicht Rechenschaft ablegen müsste.
Was hat die Regierung damals getan, die vom Volk gewählt und mit der Ruhe und Sicherheit im Land betraut war? War ich etwa Ministerpräsident? War Figen Yüksekdağ Ministerpräsidentin? Hat die HDP die Regierung gestellt? Nein, Erdoğan war Präsident und Davutoğlu Ministerpräsident. Sie hatten die Bevollmächtigung und die Kontrolle.
Ihnen unterstanden auch die militärischen Operationen in den Orten, in denen eine Ausgangssperre erklärt worden war. Ich behaupte, dass keinem Menschen etwas zugestoßen und die Barrikaden aufgehoben worden wären, wenn es zu einem Dialog gekommen wäre. Es hätte weder Zerstörung noch Todesfälle geben müssen. Aber genau das passte der AKP nicht.
In einigen Vierteln im Bezirk Sur in Diyarbakır gilt immer noch eine Ausgangssperre. Hatten wir etwa nicht die ethische Verantwortung, von dem dortigen Geschehen zu berichten und den Menschen eine Stimme zu verleihen? Wir haben uns bemüht, dieser Verantwortung nachzukommen.
Die AKP-Regierung hat ein Massaker angerichtet. Zivile Menschen wurden getötet. Kinder wurden getötet. Weil ich das zur Sprache gebracht habe, laufen noch drei bis Verfahren gegen mich wegen der Beleidigung von Davutoğlu und vier bis fünf Verfahren wegen Erdoğan. Ich möchte es hier noch einmal wiederholen: Ihr habt als Regierung ein Massaker angerichtet.
Und warum wurden die Kommandanten dieser Operationen nach dem Putsch vom 15. Juli verhaftet? Diese Menschen waren bereit, das Parlament zu bombardieren. Haben sie wirklich keinem Menschen in Cizre und Sur etwas angetan? Und mache ich mich schuldig, wenn ich das sage?
Ich habe Davutoğlu gebeten, dass der auf offener Straße liegende Leichnam von Mutter Taybet geborgen werden kann. Wie kann eine Leiche einfach auf der Straße liegenbleiben? Erst nach sieben Tagen hat die Familie den Leichnam mit großer Not bergen können, ein Mensch kam dabei ums Leben. Und ich bin angeklagt, weil ich diese Themen angesprochen habe. Nicht angeklagt sind diejenigen, die es getan haben.
Wir sind damals öffentlich aufgetreten und haben von Frieden gesprochen. Abends kam dann auf allen Fernsehkanälen die Meldung ‚HDP unterstützt das Chaos‘. Die Staatsanwaltschaften haben gemäß der politischen Ziele der Regierung ermittelt.
Wie lange soll in diesem Land noch verborgen bleiben, was sich in den Kellern von Cizre abgespielt hat? Ungefähr 120 Personen wurden in den Keller von zwei Wohnungen gedrängt. Die große Mehrheit war unbewaffnet, nur eine kleine Gruppe war bewaffnet. Ich weiß die genaue Anzahl nicht, aber es waren acht bis zehn Personen.
Wir haben mit den Menschen im Keller telefoniert. Sie sagten, dass sie unbewaffnet sind und den Keller verlassen wollen, aber sofort geschossen wird, wenn sie den Kopf herausstrecken. Daraufhin haben wir mit dem Ministerium gesprochen und gesagt, dass nicht geschossen werden soll, damit sie den Keller verlassen können. Das Ministerium rief nach stundenlangen Bemühungen zurück und sagte: ‚In Ordnung, sie können herauskommen.‘
Keine halbe Stunde später riefen wieder die Menschen aus dem Keller an und sagten, dass sie es versucht hätten, aber sofort geschossen worden sei. Das heißt, dass die dortige Sicherheitsbürokratie sich weder um das Ministerium noch um die Regierung geschert hat. Innenminister Efkan Ala hat dazu gesagt: ‚Es stellte sich heraus, dass dort außer unserer Kontrolle stehende Kräfte waren.‘
Es waren ungefähr 120 Menschen. Zuletzt wurden sie dort verbrannt. Verbrannt, im Jahr 2015. Ich spreche nicht von Hitlers Gaskammern und den 1940er Jahren. Es geschah in Cizre. Und ich stehe aufgrund unserer damaligen Äußerungen als Anführer einer Terrororganisation vor Gericht.“
Der Demirtaş-Prozess
Der Politiker und Menschenrechtsanwalt Selahattin Demirtaş wurde am 4. November 2016 zeitgleich mit zahlreichen weiteren Abgeordneten seiner Partei festgenommen und anschließend inhaftiert. Seitdem sitzt er im Hochsicherheitsgefängnis von Edirne.
In dem Prozess vor dem 19. Schwurgerichtshof Ankara drohen dem kurdischen Politiker 142 Jahre Freiheitsstrafe wegen Terrorvorwürfen. Er ist unter anderem angeklagt, eine Organisation gegründet und geleitet zu haben. Die Anklage baut auf 31 Ermittlungsberichten auf, die dem türkischen Parlament während seiner Zeit als Abgeordneter zur Aufhebung der Immunität vorgelegt worden waren.
Am 2. September 2019 hatte das Gericht überraschend den Haftbefehl gegen Demirtaş aufgehoben. Da er in einem anderen Verfahren bereits zu über vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden war, wurde er nicht aus der Haft entlassen.