Prozess gegen Selahattin Demirtaş fortgesetzt

In Ankara ist der Prozess gegen den ehemaligen HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş fortgesetzt worden. Der kurdische Politiker warf dem türkischen Präsidenten Erdoğan die Zerstörung der verfassungsrechtlichen Ordnung vor.

Vor dem 19. Schwurgericht Ankara ist heute der Prozess gegen kurdischen Politiker Selahattin Demirtaş fortgesetzt worden. Der ehemalige Ko-Vorsitzende der Demokratischen Partei der Völker (HDP) nahm über eine Videoschaltung aus der Haftanstalt Edirne an der Verhandlung in Sincan teil.

Die Verhandlung wurde von zahlreichen Politiker*innen der HDP, CHP und SKYP beobachtet. Einer Delegation der „Anwälte ohne Grenzen“ um den schwedischen Rechtsanwalt Per Stadig wurde wegen fehlender Akkreditierung der Zutritt verweigert.

Demirtaş bemängelte zunächst, dass in den Prozess Dokumente eingeführt wurden, die seinen Verteidigern vorenthalten wurden. Ein gerechtes Verfahren werde damit verhindert. In der Türkei gebe es inzwischen kein Justizsystem mehr:

„Das System, das hier mit Unterstützung von Prozessen wie diesem etabliert werden soll, ist mehr oder weniger wie das Ein-Mann-Regime in Hitler-Deutschland. Es gab mal eine gut oder schlecht funktionierende Justiz, jetzt gibt es sie nicht mehr. Ebenso gab es eine mehr oder weniger funktionierende Bürokratie, jetzt gibt es sie nicht mehr. Alles ist an einen einzigen Mann gebunden. Ein einziger Mann kann weder eine Partei noch einen Staat leiten. Das hat nichts mit Intelligenz oder geistigen Kapazitäten zu tun. Ich könnte es auch nicht. Auch Sie könnten es nicht. Aber das ist das System, das Erdoğan etablieren will: Ein Chaos-System, in dem nichts mehr möglich ist, niemand Rechenschaft verlangen kann und die Opposition mit einer Schock-Doktrin handlungsunfähig gemacht wird. Es bedeutet, die verfassungsrechtliche Ordnung zu zerstören. Es geht um eine Operation, mit der der Staat eingenommen wird. Und diese Operation ist mit der Verhaftungswelle gegen die HDP eingeleitet worden. Ein Schritt war die Aufhebung der parlamentarischen Immunität, ein weiterer unsere Verhaftung. Auch die Verhaftungen von weiteren Oppositionellen, Menschenrechtsverteidigern und Journalisten verfolgen dieses Ziel, ebenso die Schließung oppositioneller Medien unter dem Vorwand des Putschversuchs.“

Der Prozess wird am Mittwoch um 10 Uhr fortgesetzt.

Der Demirtaş-Prozess

Der Politiker und Menschenrechtsanwalt Selahattin Demirtaş wurde am 4. November 2016 zeitgleich mit zahlreichen weiteren Abgeordneten seiner Partei festgenommen und anschließend inhaftiert. Seitdem sitzt er im Hochsicherheitsgefängnis von Edirne.

In dem Prozess vor dem 19. Schwurgerichtshof Ankara drohen dem kurdischen Politiker 142 Jahre Freiheitsstrafe wegen Terrorvorwürfen. Er ist unter anderem angeklagt, eine Organisation gegründet und geleitet zu haben. Die Anklage baut auf 31 Ermittlungsberichten auf, die dem türkischen Parlament während seiner Zeit als Abgeordneter zur Aufhebung der Immunität vorgelegt worden waren.

Am 2. September 2019 hatte das Gericht überraschend den Haftbefehl gegen Demirtaş aufgehoben. Da er in einem anderen Verfahren bereits zu über vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden war, wurde er nicht aus der Haft entlassen.