Das Ministerkomitee des Europarats hat die Türkei dazu aufgefordert, den kurdischen Politiker Selahattin Demirtaş und den Bürgerrechtler Osman Kavala sofort freizulassen. Dass die türkischen Behörden beide Oppositionelle weiterhin in Haft hielten, sei ein direkter Verstoß gegen die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und offenbare „tiefgreifende Probleme” hinsichtlich der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der türkischen Justiz, erklärte das Gremium am Freitag.
Das Ministerkomitee, das als Entscheidungsorgan des Europarats die Umsetzung von EGMR-Urteilen überwacht, traf sich vom 9. bis 11. März in Straßburg zur 1898. Sitzung zum Thema Menschenrechte. Mit dem Fall von Kavala, der seit Oktober 2017 in Unteruschungshaft sitzt, beschäftigte sich das Gremium bereits zum vierten Mal. Ein zuvor von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW), der Internationalen Juristenkommission und dem „Turkey Human Rights Litigation Support Project” (TLSP) gefordertes Vertragsverletzungsverfahren gegen Ankara leitet das Ministerkomitee aber vorerst nicht ein. Stattdessen werde es einen Brief an den türkischen Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu schicken, in dem die „tiefe Besorgnis” des Komitees über die anhaltende Inhaftierung Kavalas zum Ausdruck gebracht werden soll.
Mit Blick auf die fortgesetzte Untersuchungshaft des früheren HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş, der im November 2016 inhaftiert worden war, entschied das Ministerkomitee, den Fall in seiner 1406. Sitzung im Juni wieder auf die Tagesordnung zu setzen, sollte der Politiker bis dahin noch nicht freigelassen worden sein.
Amnesty International: Türkei spuckt Europa ins Gesicht
„Es ist an der Zeit, dass europäische Regierungen den Druck erhöhen und von der Türkei die Einhaltung ihrer Verpflichtungen einfordern. Sie sollten sich nicht von den hochtrabenden Erklärungen in dem lang erwarteten Aktionsplan für Menschenrechte blenden zu lassen. Die umfassende Aushöhlung des Justizsystems lässt sich nur durch eine grundlegende Reform rückgängig machen”, erklärte Nils Muižnieks, Direktor für Europa bei Amnesty International, diese Woche.
Die Missachtung der Menschenrechte durch die Türkei sei in jüngster Zeit „besonders schamlos” geworden, so Muižnieks. Die Türkei stecke weiterhin zu Unrecht Journalist*innen, Menschenrechtsverteidiger*innen, protestierende Studierende und Social-Media-Aktivist*innen ins Gefängnis. Gleichzeitig verschärfe sie die politische Verfolgung und ignoriert Urteile des EGMR, grundlos inhaftierte Personen freizulassen.
Der europäische Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg, dessen Urteile die Türkei als bindend anerkannt hat, hat Urteile gefällt, in denen die sofortige Freilassung von Demirtaş und Kavala gefordert wird. In den Urteilen, die eine Verletzung des selten angeführten Artikels 18 der Europäischen Menschenrechtskonvention feststellen, befindet der Gerichtshof, dass ihrer Festnahme und Inhaftierung „ein Hintergedanke” zugrunde liegt, nämlich sie zum Schweigen zu bringen und den Pluralismus zu unterdrücken. „Kurz gesagt, der EGMR ist zu dem Schluss gekommen, dass es sich hier um Fälle politischer Verfolgung handelt”, so Muižnieks. Die Antwort der Türkei habe allerdings darin bestanden, dem Rest Europas „ins Gesicht zu spucken”, indem sie neue, unbegründete Anklagen gegen beide Männer erhob, was den eindeutig politischen Charakter der Fälle zeige.
EU-Mitgliedsstaaten sollen Vertragsverletzungsverfahren einleiten
Amnesty International fordert alle EU-Mitgliedstaaten auf, Vertragsverletzungsverfahren gegen die Türkei als ein Land, das seine Verpflichtungen aus der Europäischen Konvention „schamlos missachtet”, einzuleiten, um ein entschlossenes Vorgehen der EU gegen politische Verfolgung zu zeigen. Solch ein Verfahren kam bisher nur einmal zum Einsatz, und zwar im Fall Ilgar Mammadow gegen Aserbaidschan. Ein weiterer Schritt bestünde in der Einleitung einer Sonderuntersuchung durch die Generalsekretärin, die politische Spitze des Europarats, um festzustellen, warum diese Urteile nicht umgesetzt werden, unterstreicht Amntesty International. Dieses Instrument wurde in den letzten 20 Jahren nur viermal eingesetzt, zuletzt wieder im Fall von Mammadow.