HDP: Europa sollte eigene Prinzipien befolgen
Die HDP-Vorsitzenden Pervin Buldan und Mithat Sancar haben sich zum drohenden Verbot ihrer Partei, möglichen Sanktionen gegen die Türkei und der Aufgabe Europas geäußert.
Die HDP-Vorsitzenden Pervin Buldan und Mithat Sancar haben sich zum drohenden Verbot ihrer Partei, möglichen Sanktionen gegen die Türkei und der Aufgabe Europas geäußert.
Der Demokratischen Partei der Völker (HDP) droht ein Verbot in der Türkei. Dutzenden Abgeordneten soll die parlamentarische Immunität entzogen werden. Angesicht der brisanten Lage haben sich die Parteivorsitzenden Pervin Buldan und Mithat Sancar gemeinsam mit den Abgeordneten Saruhan Oluç und Tayyip Temel auf einer Pressekonferenz in Istanbul gegenüber Journalistinnen und Journalisten aus dem In- und Ausland geäußert.
Buldan: Die Türkei steht vor einer ernsten wirtschaftlichen, politischen und sozialen Krise
Pervin Buldan erklärte auf der Pressekonferenz: „Ich glaube, dass die Türkei vor einer ernsten wirtschaftlichen, politischen und sozialen Krise steht. Die Gesellschaft leidet unter einer finanziellen Notlage. Wir wissen, dass die Ressourcen, die im Krieg verschwendet werden, effektiver für das Wohl der Gesellschaft eingesetzt werden können. Die Ressourcen des Landes wurden auch zur Deckung der Ausgaben des Präsidentenpalastes und regierungsfreundlicher Gruppen ausgegeben. Die Bedingungen der Pandemie haben all diese Probleme noch verschlimmert: Die Geschäftsinhaber in der Türkei und die Kleinunternehmer sind in große Not geraten. Dieses Bild des Landes zeigt, dass die Regierungskoalition aus AKP und MHP unfähig ist, das Land zu regieren."
Buldan erklärte weiter: „Zusätzlich zu dieser Finanzkrise befindet sich die Türkei in einer politischen Krise. Als HDP sind wir mit allen Arten von politischem Druck gegen uns konfrontiert worden. Jetzt laufen unsere Abgeordneten Gefahr, ihre Immunität im Parlament zu verlieren. Die HDP ist die drittgrößte Oppositionspartei in der Türkei. Der HDP zu drohen oder ihr das Damoklesschwert zu zeigen, wird diesem Land nichts bringen.
Neben der politischen und wirtschaftlichen Krise gibt es die kurdische Frage in der Türkei. Wir als HDP sind der Meinung, dass die kurdische Frage nur durch Verhandlungen und Dialog gelöst werden kann. Wir haben uns zwischen 2011 und 2015 aktiv am Lösungsprozess beteiligt. Auch Abdullah Öcalan hat den Vorschlag geäußert, die kurdische Frage durch einen Dialog zu lösen, aber die Regierung hat diese Ideen abgelehnt und auf die früheren Methoden der Unterdrückung gesetzt. Das Verbot einer politischen Partei und die Aufhebung der Immunität ist für kein politisches Umfeld von Vorteil. Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, viele weitere Abgeordnete sowie Bürgermeisterinnen und Bürgermeister der HDP sind im Laufe der vergangenen Jahre inhaftiert worden. Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) bezüglich der sofortigen Freilassung von Selahattin Demirtaş wurde von der Türkei nicht umgesetzt. Dies ist eine grundlegende Frage für die Demokratisierung der Türkei und die Lösung der bestehenden Krise.“
Pervin Buldan sprach auch die Menschenrechtsverletzungen in den Gefängnissen einschließlich der entwürdigenden Nacktdurchsuchungen an und wies darauf hin, dass aufgrund der Überfüllung der Haftanstalten inzwischen immer öfter die Methode des „Hausarrests" angewandt wird.
Am Ende ihres Vortrags betonte Buldan die Bedeutung des Ende November gestarteten Hungerstreiks politischer Gefangener: „In der Türkei gibt es einen Hungerstreik. Wir versuchen, die Hungerstreiks an die Spitze der Tagesordnung zu bringen, aber die türkischen Behörden und das Justizministerium schweigen zu diesem Thema. Wir glauben, dass die Schritte, die zur Beendigung der Hungerstreiks unternommen werden müssen, von entscheidender Bedeutung sind. Menschen, die ihren Körper opfern, um sich an Hungerstreiks zu beteiligen, verdienen es, dass die Regierung Schritte unternimmt."
Sancar: „Die Rechtsstaatlichkeit ist in der Türkei seit vielen Jahren außer Kraft gesetzt“
Anschließend ergriff Mithat Sancar das Wort und sagte: „Es gibt mehrere Krisen in der Türkei. Zwei Hauptdimensionen der politischen Krise sind die Krise des Rechts und der Demokratie. Die Türkei wird von einem Regime regiert, das im Laufe der Jahre immer autoritärer geworden ist. Dieses Jahr ist für uns sehr bedeutsam, um zu sehen, ob sich dieser Autoritarismus in einem kontinuierlichen Trend weiterentwickeln wird oder nicht.
Die Rechtsstaatlichkeit ist in der Türkei seit vielen Jahren beiseite geschoben worden, während die Willkür immer entscheidender geworden ist. Die Justiz ist nicht unabhängig und die Gewaltenteilung wurde aufgehoben. In Ländern, in denen Demokratie und Recht nicht gut funktionieren, kommt es zu wirtschaftlichen Krisen. Die sichtbarste Facette dieser Demokratie- und Rechtskrise sieht man an dem Druck auf unsere Partei. Die politische Macht entscheidet sich für die Unterdrückung der Opposition, um ihre eigene Existenz zu erhalten.
Die Drohung, die HDP zu schließen und die Anklagen hängen damit zusammen. Auf der einen Seite implizieren sie, dass ein Verfahren gegen die HDP eröffnet werden kann, um die Partei zu schließen; auf der anderen Seite versuchen sie, eine Atmosphäre der Angst zu schaffen, indem sie unserer Partei mit den Anklageschriften drohen. Besonders in Bezug auf die Anklagen möchte ich betonen, dass die Anschuldigungen und sogenannten Beweise, die gegen unsere Partei vorgebracht werden, tragikomisch und weit entfernt von der Realität sind. Das wird auch im EGMR-Urteil zu Demirtaş deutlich. Der EGMR hat geurteilt, dass die Vorgänge gegen unsere Partei auf politischen, aber nicht auf rechtlichen Gründen beruhen. Artikel 18 der Menschenrechtskonvention ist sehr bedeutsam, weil dieser Artikel in den Fällen Osman Kavala und Selahattin Demirtaş berücksichtigt wurde. Die türkische Regierung hat gesagt, dass diese Entscheidung für sie nicht bindend ist.“
Sancar: Wir fordern das Ministerkomitee des Europarates zum Handeln auf
Sancar erklärte weiter: „Das Ministerkomitee des Europarats trifft sich vom 9. bis 11. März in Straßburg zur 1898. Sitzung zum Thema Menschenrechte. Wir möchten die Delegierten des Europarates auffordern: Wenn sie die Gesetze und Regeln der Konventionen aufrechterhalten wollen, sollten sie handeln und entsprechend entscheiden. Die Haltung der Türkei gegenüber der EMRK ist nicht nur eine Bedrohung für die Demokratie und die Menschenrechte in der Türkei, sondern auch eine Bedrohung für das System Europa in Bezug auf die Menschenrechte.
Natürlich sind wir bezüglich der Demokratisierung der Türkei nicht nur von verschiedenen Institutionen abhängig. Wir setzen unseren Kampf für die Demokratisierung der Türkei gegen den Autoritarismus fort, indem wir unseren Kampf mit den anderen demokratischen Verbündeten im Lande vereinen. Die HDP glaubt, dass die kurdische Frage und alle gesellschaftlichen Probleme durch Demokratie und Recht gelöst werden können. Deshalb bestehen wir darauf, unsere demokratische Politik beizubehalten. Die Regierung hingegen setzt auf Unterdrückung, Polarisierung und zunehmende Spannungen, anstatt auf Politik und Recht. Wir glauben, dass ein solches Verständnis die Krise in der Türkei verschärft. Deshalb sehen wir die Lösung in einem breiten demokratischen Bündnis.“
„Die internationalen demokratischen Kräfte sind gegenüber der Türkei voreingenommen"
Nach ihren Statements beantworteten die HDP-Vorsitzenden Fragen von Journalistinnen und Journalisten. Als Antwort auf eine Frage von Medya News teilten die HDP-Ko-Vorsitzenden Buldan und Sancar ihre Ansicht über das Schweigen der internationalen demokratischen Kräfte zu der ausbleibenden Umsetzung der EGMR-Anordnung zur sofortigen Freilassung des ehemaligen HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und des Philanthropen Osman Kavala mit. Dies erscheine widersprüchlich, merkten sie an, wenn man bedenke, dass im Fall Navalny Sanktionen gegen Russland verhängt worden seien. Buldan und Sancar äußerten sich auch dazu, wie sie die Haltung der Vereinten Nationen und des CPT (Europäisches Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe) zu den anhaltenden Hungerstreiks und den Isolationsbedingungen von Abdullah Öcalan im Gefängnis sehen.
„Das Urteil des EGMR bezüglich der sofortigen Freilassung des ehemaligen Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş wurde von der Türkei nicht umgesetzt, aber die USA und die EU haben nie eine Entscheidung bezüglich Sanktionen getroffen. Die internationale Arena schweigt zur Isolierung von Abdullah Öcalan und den Hungerstreiks. Auch die internationalen demokratischen Mächte schweigen zur Unterdrückung gegen die HDP", sagte Buldan.
Buldan betonte, dass die HDP nur dann für Sanktionen gegen die Türkei sei, wenn sich diese gezielt gegen die AKP richten würden: „Ich möchte betonen, dass wir für Sanktionen gegen die Türkei sind, aber wir wollen nicht, dass die Menschen in der Türkei unter diesen Sanktionen leiden: Die AKP sollte die Rechnung für die Sanktionen bezahlen, nicht die Gesellschaft. Wir fordern keine weitreichenden Sanktionen, weil wir glauben, dass die Lösung nicht in Sanktionen liegt, sondern darin, die Türkei dazu zu bringen, die notwendigen Schritte zur Demokratisierung zu unternehmen. Wir glauben, dass die Demokratisierung der Türkei die einzige Lösung ist."
„Es gibt Hunderte Nawalnys in der Türkei“
Sancar erklärte, dass die Herangehensweise der internationalen Mächte und der EU an die Türkei eklatant voreingenommen sei: „Wir bewerten die Herangehensweise an die Türkei als voreingenommen. In Bezug auf die jüngsten Entwicklungen in Russland und die damit verbundene Verhaftung von Navalny hat die EU eine klare Haltung gegenüber Russland gezeigt. Diese Haltung ist richtig. In der Türkei gibt es jedoch Hunderte von Beispielen für Nawalny; Demirtaş und Kavala als die sichtbarsten Symbole, aber zusätzlich zu ihnen haben wir viele inhaftierte Freunde aus unserer Partei, sowie Intellektuelle, Autoren, Journalisten innerhalb der Mauern der Gefängnisse in der Türkei, die der gleichen Ungerechtigkeit wie Nawalny gegenüberstehen. Die EU gibt jedoch der Sicherheit und der Wirtschaft beim Aufbau ihrer Beziehungen zur Türkei den Vorrang und orientiert sich weder an den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie noch an internationalen Kriterien und Konventionen der Menschenrechte."
Sancar betonte, dass die HDP die EU nur darum bittet, auf der Grundlage ihrer eigenen Prinzipien zu handeln: „Wir bitten die EU nicht darum, uns zu helfen oder unnötige Sanktionen oder Druck auf die Türkei auszuüben. Wir fordern die EU lediglich dazu auf, nach ihren eigenen Prinzipien zu handeln. Wenn die EU ihre Beziehungen auf der Grundlage der Kopenhagener Kriterien führt, kann sie zur Entwicklung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in der Türkei beitragen; wenn nicht, fördert sie nur den Autoritarismus und die Willkür in der Türkei."
Buldan: Türkische Regierung war bei Reformaufrufen nie aufrichtig
In Bezug auf den vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan angekündigten Aktionsplan für Menschenrechte erklärte Buldan: „Jedes Mal, wenn eine Reform angekündigt wurde, sind in den letzten 19 Jahren der AKP-Herrschaft keine wirklichen Maßnahmen in Bezug auf die Entwicklung der Justiz ergriffen worden." An den Folgen der verschiedenen früheren Reformankündigungen der türkischen Regierungen sei zu erkennen, dass die türkische Regierung nie aufrichtig bei ihren Reformaufrufen gewesen ist.
Sancar: Der Plan ist ein Eingeständnis des Mangels an Menschenrechten in der Türkei
Sancar bezeichnete den Aktionsplan für Menschenrechte als ein „Geständnis des Mangels an Menschenrechten" in der Türkei, der die verheerenden Bedingungen im Lande beleuchte:
„Die Regierung hat einen Aktionsplan für Menschenrechte angekündigt, der sich auf neun Überschriften und 393 Untertitel bezieht, was eindeutig ein Geständnis ist, dass es in neun Überschriften und 393 Untertiteln Menschenrechtsprobleme in unserem Land gibt. Wenn die Regierung in Bezug auf diesen Plan aufrichtig und glaubwürdig gegenüber der Gesellschaft sein will, sollte sie sich zuerst bei unserer Gesellschaft für ihre Praktiken der Zerstörung und Schädigung dieser Menschenrechte entschuldigen.
Allerdings hat die Regierung nach der Ankündigung dieses Plans die eigentliche Absicht ihres Handelns gezeigt. Eine weitere Tatsache ist, dass dem Ein-Mann-Regime im Lande der notwendige Mechanismus fehlt, um den Weg für die richtige Umsetzung der Menschenrechte zu ebnen und diese Rechte zu bewahren. In dieser aktuellen Form und der Mentalität der türkischen Regierung ist es unmöglich, eine Menschenrechtsreform durchzuführen. Eine echte Menschenrechtsreform kann nur erreicht werden, wenn sich die demokratischen Kräfte zusammenschließen und ihre Solidarität und ihren Kampf für die Menschenrechte verstärken. Die türkische Regierung versucht nett auszusehen und mit diesem Menschenrechts-Aktionsplan eine Botschaft an die neue US-Regierung und die EU zu senden.“
Buldan über das Leben einer kurdischen Politikerin in der Türkei
Auf eine Frage zu den Anschuldigungen gegen die weiblichen Abgeordneten der HDP betonte Buldan, dass dies ein Teil der Angriffe gegen Frauen sei: „Die Angriffe auf unsere Partei können nicht unabhängig von den Angriffen auf Frauen bewertet werden, denn die HDP ist eine Frauenpartei. Die Tatsache, dass die Anklage gegen die weiblichen Abgeordneten der HDP eröffnet wurde, ist ein Spiegelbild der Angriffe gegen Frauen in der Politik, aber dies ist nicht das einzige Beispiel. Viele Lokalpolitikerinnen und Bürgermeisterinnen sind solchen Angriffen ausgesetzt. Wenn du eine Frau bist, ist es schwer, in der Türkei Politik zu machen, aber wenn du eine Kurdin und HDP-Mitglied bist, ist dein Job noch schwieriger.“
Gibt es Gespräche mit Abdullah Öcalan?
Zu einer weiteren Frage, ob der türkische Staat aktuell Gespräche mit Abdullah Öcalan führt, sagte Buldan: „Wir haben keine Informationen darüber, weil wir keinen Kontakt zu Herrn Öcalan haben, da er unter starker Isolation steht. Um das zu erfahren, sollte die Isolation aufgehoben werden und die Treffen von Herrn Öcalan mit seinen Anwälten und seiner Familie sollten sichergestellt werden. So können wir erfahren, ob es irgendwelche Treffen auf Imralı gibt, die sich auf irgendwelche Verhandlungen mit ihm beziehen."