Drei große internationale NGOs haben das Ministerkomitee des Europarats aufgefordert, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Türkei einzuleiten, weil sich Ankara im Fall des Bürgerrechtlers Osman Kavala weiter über ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) hinweggesetzt und den 63-Jährigen in Untersuchungshaft behält. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW), die Internationale Juristenkommission und „Turkey Human Rights Litigation Support Project” (TLSP) legten die Empfehlung in einer Eingabe an das Ministerkomitee vor, das als Entscheidungsorgan des Europarats die Umsetzung der EGMR-Urteile überwacht. Das Komitee hält vom 9. bis 11. März seine nächste Sitzung ab und wird sich zum mittlerweile vierten Mal mit dem Fall Kavala beschäftigen. Der türkische Kulturstifter befindet sich seit November 2017 in Untersuchungshaft, obwohl der EGMR zwischenzeitlich urteilte, dass die Inhaftierung Kavalas politisch motiviert sei und er damit zum Schweigen gebracht werden soll.
Eklatante Missachtung europäischer Rechtsprechung
„Die eklatante Missachtung der Anordnung des EGMR, Osman Kavala freizulassen, sollte das Ministerkomitee des Europarats veranlassen, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Türkei einzuleiten”, sagte Aisling Reidy, leitende Rechtsberaterin bei HRW. Es sei von entscheidender Bedeutung, dass das Gremium die türkische Regierung nicht daran zweifeln lasse, dass Urteile des Straßburger Menschenrechtsgerichts auch für die Türkei bindend sind und die Nichtumsetzung der Entscheidung im Fall von Kavala eine „schwerwiegende Verletzung” darstelle, die „außergewöhnliche Maßnahmen” erfordere.
TLSP: Eindeutiges Signal an Ankara senden
Das Ministerkomitee des Europarats hat die Kompetenz, Vertragsverletzungsverfahren vor der Großen Kammer des EGMR anzustrengen, wenn ein Staat sich beharrlich weigert, einem Urteil des Gerichtshofs Folge zu leisten. Als mögliche Sanktion kann das Stimmrecht des Mitgliedsstaates suspendiert werden, grundsätzlich steht auch der Ausschluss aus dem Europarat zur Disposition. Erstmals war von diesem Instrument 2017 Gebrauch gemacht worden, als sich die Regierung Aserbaidschans weigerte, die Freilassung des unrechtmäßig inhaftierten Oppositionspolitikers Ilgar Mammadow sicherzustellen. Die Einleitung eines solchen Saktionsverfahrens erfordert die Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Ministerkomitees. Regelmäßig werden diese Konsequenzen jedoch aus politischen Gründen vermieden.
„Der Fall Kavala steht sinnbildlich für den Zustand der Zivilgesellschaft und der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei”, sagte Helen Duffy von TLSP. „Wir erkennen an, dass Vertragsverletzungsverfahren außergewöhnlich sind, aber wenn es einen Fall gibt, in dem sie gerechtfertigt sind, dann ist es dieser”, so Duffy. Gegen die Türkei müsse dieser juristische Mechanismus in jedem Fall ausgelöst werden, um zu signalisieren, wie „beschämend” es sei, sich nicht an die verbindlichen Urteile des EGMR zu halten.
Willkürliche Anwendung der Gesetze gegen Oppositionelle
In ihrer Eingabe unterstreichen die Organisationen, dass die am Kavala-Verfahren beteiligten Richter und Staatsanwälte strafrechtliche Verfahrensregeln missbraucht hätten, um die Untersuchungshaft gegen den Bürgerrechtler rechtswidrig zu verlängern. Ein Schlüsselinstrument sei hierbei die sich teilweise wiederholende Trennung und Zusammenlegung von Verfahren. „Diese Methode wird die seit über drei Jahren andauernde Ungerechtigkeit türkischer Gerichte oder der Regierung nicht aus dem Weg räumen”, so Róisín Pillay, Direktorin für Europa und Zentralasien bei der Internationalen Juristenkommission. Es handele sich jedoch um eine „systematische Praxis der nicht unabhängigen türkischen Justiz”, dass sich die Strafverfolgung im Fall von Oppositionellen auf eine vollkommen willkürliche Anwendung der Gesetze stützt.
Nächster Prozesstermin im Mai
Anfang Februar hatte ein Istanbuler Gericht die Zusammenlegung beider Verfahren gegen Osman Kavala beschlossen. Damit steht Kavala künftig in einem Prozess wegen Vorwürfen im Zusammenhang mit dem Putschversuch 2016 und den Gezi-Protesten 2013 vor Gericht. Die Staatsanwaltschaft wirft Kavala in dem Putsch-Verfahren politische oder militärische Spionage und einen Umsturzversuch vor. Auch im Verfahren zu den regierungskritischen Gezi-Protesten geht es um den Vorwurf des Umsturzversuchs. Im Januar hatte ein regionales Berufungsgericht Istanbul entschieden, dass das Gezi-Verfahren neu aufgerollt werden soll und die Zusammenlegung beider Fälle empfohlen. Damit wurde der Freispruch von Kavala und acht weiteren Angeklagten in dem Prozess aus dem vergangenen Jahr aufgehoben. Der nächste Prozesstermin, bei dem erstmals beide Verfahren als eines verhandelt werden sollen, ist für den 21. Mai geplant.