Türkei: Berufungsgericht hebt Urteile im Gezi-Prozess auf
Ein türkisches Berufungsgericht hat die Freisprüche im Gezi-Prozess aufgehoben und den Fall zur Neuverhandlung an das erstinstanzliche Gericht zurückverwiesen.
Ein türkisches Berufungsgericht hat die Freisprüche im Gezi-Prozess aufgehoben und den Fall zur Neuverhandlung an das erstinstanzliche Gericht zurückverwiesen.
Ein regionales Berufungsgericht in Istanbul hat die Urteile im Gezi-Prozess aufgehoben und den Fall zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das erstinstanzliche Gericht zurückverwiesen. Damit wird der Weg frei für einen weiteren Prozess gegen den Bürgerrechtler Osman Kavala sowie acht weitere führende Persönlichkeiten der Zivilgesellschaft, darunter die frühere Vorsitzende der Architektenkammer, Ayşe Mücella Yapıcı.
Gut sieben Jahre nach den regierungskritischen Gezi-Protesten in der Türkei waren Kavala, Yapıcı sowie Şerafettin Can Atalay, Tayfun Kahraman, Ali Hakan Altınay, Yiğit Aksakoğlu, Yiğit Ali Ekmekçi, Çiğdem Mater Utku und Mine Özerden im Februar vergangenen Jahres überraschend von allen Vorwürfen freigesprochen worden. Es lägen keine „ausreichenden Beweise“ für die Schuld der Anklagten vor, denen unter anderem ein Umsturzversuch vorgeworfen worden war, erklärten die Richter am Strafgerichtshof im Gefängniskomplex Silivri bei Istanbul. Da sich die übrigen sieben Angeklagten im Ausland befanden bzw. befinden, darunter der im Berliner Exil lebende Journalist Can Dündar, waren die vorliegenden Haftbefehle gegen sie aufgehoben und ihre Verfahren abgetrennt worden.
Einen Tag nach den unerwarteten Freisprüchen im Gezi-Prozess hatte der in der Türkei für disziplinarrechtliche Kontrolle der Gerichte zuständige „Rat der Richter und Staatsanwälte“ (Hakimler ve Savcılar Kurulu, HSK) Ermittlungen gegen drei Richter in Silivri eingeleitet. Im April legte die Generalstaatsanwaltschaft von Istanbul schließlich Berufung gegen die Freisprüche in dem Fall ein. In einem 90-seitigen Antrag begründete Staatsanwalt Edip Şahiner den Schritt mit einer menschenverachtenden und rassistischen Argumentation. So werden Osman Kavala seine Projekte zur Förderung der Armenier und Kurden vorgeworfen. Beide Ethnien seien im Rahmen der Aktivitäten seiner Stiftung Anadolu Kültür „in den Vordergrund” gestellt worden – „zum Nachteil des Staates“. Seine Projekte in den Bereichen Frauenrechte, Kindesmissbrauch, Gewalt gegen Frauen, Assimilierung von Minderheiten, Meinungsfreiheit und Umweltbewusstsein seien als „Versuche” gedacht, „Massenaufstände” anzuzetteln, um die Regierung zu stürzen. Osman Kavala soll die Gezi-Proteste mit ausländischer Hilfe finanziert und organisiert haben. Hinter den Kulissen hätten Can Atalay, Tayfun Kahraman und Mücella Yapıcı die Strippen gezogen.
Kavala trotz EGMR-Urteil weiter in Untersuchungshaft
Osman Kavala ist trotz eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) seit über drei Jahren unter dubiosen Anschuldigungen in Untersuchungshaft. Im Dezember 2019 hatte der EGMR die Festsetzung des türkischen Intellektuellen für unrechtmäßig erklärt und festgestellt, dass seine Verhaftung das Ziel verfolgt, ihn zum Schweigen zu bringen und andere Menschenrechtsaktivisten abzuschrecken. Die Türkei hat die Entscheidung ignoriert.
Kavala, der im Oktober 2017 in Istanbul verhaftet wurde, war nur wenige Stunden nach seinem Freispruch im Gezi-Prozess erneut inhaftiert worden – diesmal aufgrund des Verdachts, in den vermeintlichen Putschversuch vom 15. Juni 2016 involviert gewesen zu sein. Inzwischen wurde er zwar auch von diesem Vorwurf freigesprochen. Am 9. März ist jedoch auf der Grundlage eines dritten Bündels von Anschuldigungen, darunter „politische oder militärische Spionage“, erneut Untersuchungshaft gegen den Kulturmäzen verhängt worden. Die erste Anhörung in dem Prozess fand am 18. Dezember statt. Anfang Februar wird das Verfahren fortgesetzt.