Nach den Freisprüchen gegen neun Angeklagte im Gezi-Prozess hat die Generalstaatsanwalt von Istanbul Berufung eingelegt. Der 30. Istanbuler Strafgerichtshof im Gefängniskomplex Silivri hatte am 18. Februar den Kulturmäzen und Bürgerrechtler Osman Kavala und acht Mitangeklagte vom Vorwurf des „Umsturzversuchs” freigesprochen. Die Staatsanwaltschaft hatte lebenslange Haft unter erschwerten Bedingungen für den 62 Jahre alten Kavala sowie die frühere Vorsitzende der Architektenkammer Mücella Yapıcı und den Ingenieur Yiğit Aksakoğlu gefordert. Für weitere Angeklagte waren lange Haftstrafen gefordert worden.
Die Richter in Silivri hatten jedoch keine „ausreichenden Beweise” für die Schuld der Anklagten gesehen und die Freilassung angeordnet. Kavala wurde nur wenige Stunden nach seinem Freispruch erneut festgenommen. Inzwischen ist ein Ermittlungsverfahren wegen Spionage eingeleitet worden. Auch gegen drei der Richter, die alle Angeklagten im Gezi-Prozess freigesprochen hatten, wird ermittelt. Inspektoren vom türkischen „Rat der Richter und Staatsanwälte“ überprüfen das Urteil nach Fehlern. Über die Richter wird später anhand des Untersuchungsberichts entschieden.
Hintergrund der Anklage gegen Kavala und 15 Intellektuelle, Journalisten, Schauspieler und Menschenrechtler waren die Gezi-Proteste von Sommer 2013. Damals hatten Aktivist*innen zunächst gegen ein geplantes Bauprojekt auf dem Gelände des Gezi-Parks, der unmittelbar an den zentralen Taksim-Platz angrenzt, demonstriert. Die lokalen Proteste weiteten sich schnell zu einer landesweiten Widerstandsbewegung gegen die autoritäre Politik des damaligen Ministerpräsidenten und heutigen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan aus, nachdem die Polizei hart gegen die Bürgerinitiative und solidarische Umweltaktivist*innen vorgegangen war. Die Bewegung wurde jedoch blutig niedergeschlagen – elf Menschen starben, Tausende weitere wurden verletzt.
Menschenverachtende Begründung
In einem 90-seitigen Antrag begründet Staatsanwalt Edip Şahiner die Berufung mit einer menschenverachtenden und rassistischen Argumentation. So werden Osman Kavala seine Projekte zur Förderung der Armenier und Kurden vorgeworfen. Beide Ethnien seien im Rahmen der Aktivitäten seiner Stiftung „in den Vordergrund” gestellt worden - zum Nachteil des Staates. Seine Projekte in den Bereichen Frauenrechte, Kindesmissbrauch, Gewalt gegen Frauen, Assimilerung von Minderheiten, Meinungsfreiheit und Umweltbewusstsein seien als „Versuche” gedacht, „Massenaufstände” anzuzetteln, um die Regierung zu stürzen. Osman Kavala soll die Gezi-Proteste mit ausländischer Hilfe finanziert und organisiert haben. Hinter den Kulissen hätten Can Atalay, Tayfun Kahraman und Mücella Yapıcı die Strippen gezogen.
Wer ist Osman Kavala?
Osman Kavala ist Gründer der Kulturstiftung Anadolu Kültür, mit der insbesondere Projekte von ethnischen und religiösen Minderheiten gefördert werden, oftmals mit internationaler Ausrichtung. Zu seinen Anliegen gehören unter anderem die Aussöhnung zwischen der türkischen und der armenischen Bevölkerung und eine friedliche Lösung der kurdischen Frage. Die Stiftung arbeitet auch mit mehreren deutschen Institutionen wie dem Goethe-Institut in Istanbul zusammen. Zudem ist Kavala als Sponsor von Amnesty International bekannt.
Kurz nach der Festnahme Kavalas nannte ihn Staatspräsident Erdoğan abfällig den „türkischen Soros“ in Anspielung auf den US-amerikanischen Kulturstifter George Soros. In einer Rede warf er Kavala einen Versuch der „Spaltung der Nation“ vor. Hinter ihm stehe „der berühmte ungarische Jude Soros. Dies ist der Mann, der Leute um die Welt schickt, um Nationen zu spalten“, sagte Erdoğan. Soros beendete daraufhin die Arbeit seiner Stiftung in der Türkei.