Die HDP ist die Brücke zu einer demokratischen Türkei

Fünf Jahre nach der Verhaftung der HDP-Vorsitzenden Figen Yüksekdag und Selahattin Demirtaş sowie zahlreicher weiterer Abgeordneter setzt das Erdoğan-Regime seine autoritären Methoden im Kampf gegen die Kurd:innen in und um die Türkei fort.

Vor fünf Jahren, am 4. November 2016, wurden die Ko-Vorsitzenden der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Figen Yüksekdag und Selahattin Demirtaş, zusammen mit anderen Abgeordneten festgenommen. Seitdem befinden sie sich in türkischen Gefängnissen in politischer Geiselhaft. Aus Anlass des Jahrestages hat Devriş Çimen, Repräsentant der HDP in Europa, die aktuellen Entwicklungen im Zusammenhang mit der Repression gegen die politische Opposition in der Türkei zusammengefasst.

Laut Çimen befinden sich über 4.000 HDP-Mitglieder derzeit in Haft. Dutzende von Journalist:innen sind inhaftiert worden und die Medien werden zensiert. Der HDP droht ein Verbot durch das Verfassungsgericht und 108 Angeklagten, darunter prominente HDP-Mitglieder, von denen zwanzig im Gefängnis sind, droht im laufenden „Kobanê-Verfahren" lebenslange Haft. Unterdessen hat das türkische Parlament das Mandat für Auslandseinsätze im Irak und in Syrien verlängert.

„Die Türkei hat gezeigt, dass sie das Völkerrecht und die Menschenrechte missachtet und auch die Entscheidungen mehrerer internationaler Institutionen wie des Europarats, des Europäischen Parlaments und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ignoriert. Die Türkei ist weiterhin eine Besatzungsmacht in Nordsyrien (Rojava) und Nordirak (Südkurdistan) und begeht Menschenrechtsverletzungen in den von ihr besetzten Gebieten. Es gibt zahlreiche Berichte über den Einsatz von Chemiewaffen durch die Türkei im Nordirak (Südkurdistan)“, stellt der HDP-Vertreter in Europa einleitend fest: „Mit diesen Punkten wollen wir auf das willkürliche Vorgehen des Erdoğan-Regimes und seine autoritären Methoden im Kampf gegen die Kurd:innen in und um die Türkei aufmerksam machen.“

Weiter heißt es in der Erklärung: „Am 4. November jährt sich die Inhaftierung der HDP-Ko-Vorsitzenden Figen Yüksekdag und Selahattin Demirtaş, die seit 2016 inhaftiert sind. Die Partei leistet weiterhin Widerstand gegen willkürliche und systematische Repressionen. Vor türkischen Gerichten finden Prozesse gegen unsere inhaftierten ehemaligen Ko-Vorsitzenden, gegen HDP-Abgeordnete, gegen unsere abgesetzten Ko-Bürgermeister:innen, gegen viele andere Parteimitglieder und gegen die Partei selbst statt. Besonders hervorzuheben sind das Kobanê-Verfahren und der Versuch, die HDP zu verbieten. Sollte das Gericht dem Verbot zustimmen, würde dies auch für 451 HDP-Politiker ein fünfjähriges Verbot der aktiven Politik bedeuten.

Willkürliche Prozesse und Tausende von Inhaftierungen

Die HDP betrachtet diese Verfahren als politisch motiviert. Anders kann man diese willkürlichen Verfahren nicht verstehen. In der Türkei hat das Regime von Erdoğan die Kontrolle über alle staatlichen Institutionen übernommen. Die HDP ist die zweitgrößte Oppositionspartei in der Türkei und wird seit Jahren systematisch von dem islamisch-nationalistischen Regime unterdrückt. Seit 2016 sind über 10.000 HDP-Mitglieder inhaftiert worden. Mehr als 4.000 befinden sich noch immer im Gefängnis. Auch Tausende andere politische Gefangene sind derzeit in der Türkei inhaftiert. Heute werden 95 Prozent der türkischen Medien vom Regime kontrolliert, und die restlichen fünf Prozent unterliegen einer ständigen Zensur. Dutzende von Journalist:innen sind seit Jahren wegen ihrer kritischen Berichterstattung inhaftiert.
Alle diese politischen Gefangenen sind Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt, darunter Isolation, fehlende medizinische Versorgung sowie psychische und physische Folter. Darüber haben zahlreiche Menschenrechtsorganisationen berichtet.

Der ehemalige Ko-Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirtaş, ist Gegenstand zahlreicher Verfahren vor türkischen Gerichten. Das türkische Verfassungsgericht hatte entschieden, dass seine Inhaftierung unrechtmäßig ist. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat seine Inhaftierung verurteilt und wiederholt seine Freilassung gefordert. Alle Inhaftierungen von HDP-Mitgliedern sind jedoch politisch motiviert, und Demirtaş wird weiterhin vom Erdoğan-Regime als politische Geisel gehalten.

Warum wird die HDP wegen der Kobanê-Proteste angeklagt?

Selahattin Demirtaş steht zusammen mit 107 anderen Angeklagten im sogenannten Kobanê-Prozess vor Gericht. Ihnen wird unter anderem vorgeworfen, im Zusammenhang mit den Kobanê-Protesten im Jahr 2014 ,die Einheit des Staates und die Integrität des Landes zu zerstören'.

Als der sogenannte „Islamische Staat" (IS) die kurdische Stadt Kobanê in Syrien nahe der türkischen Grenze angriff, kam es in der Türkei und weltweit zu großen Demonstrationen und Solidaritätsaktionen zur Unterstützung von Kobanê durch Tausende von Menschen. In der Türkei kam es während der Proteste Anfang Oktober 2014 zu gewaltsamen Zusammenstößen und Eskalationen mit türkischen Sicherheitskräften. Die HDP wird vom Erdoğan-Regime für diese Zusammenstöße verantwortlich gemacht. Mit diesem Prozess will das Regime diese Demonstrationen und auch die weltweite Solidarität mit dem Widerstand in Kobanê kriminalisieren.

Erdoğan empfindet den kurdischen Widerstand und den kurdischen Sieg gegen den IS als Bedrohung. Damals erwarteten die Menschen in der Türkei von der türkischen Regierung, dass sie den Widerstand gegen den IS unterstützt. Für Erdoğan bot der IS jedoch eine willkommene Gelegenheit, die kurdischen Errungenschaften in Rojava (Nord- und Ostsyrien) ohne großes Eingreifen zu zerstören.

Im Hintergrund dieser Ereignisse lief der sogenannte ,Friedensprozess' zwischen dem Erdoğan-Regime und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) weiter. Er zielte darauf ab, die demokratischen Bedingungen in der Türkei zu erweitern und die kurdische Frage in einem demokratischen und friedlichen Rahmen zu lösen. Diese Friedensgespräche wurden jedoch aufgrund der antikurdischen Haltung von Erdoğan abgebrochen.

Bei den Parlamentswahlen im Juni 2015 konnte die HDP ihren Stimmenanteil mit mehr als sechs Millionen Stimmen auf 13,1 Prozent steigern. Sie übertraf die Wahlhürde von zehn Prozent und zog mit 80 Sitzen ins Parlament ein. Dies verhinderte, dass Erdoğans AKP eine parlamentarische Mehrheit erreichte, die es ihm ermöglicht hätte, die Verfassung zu ändern. Daraufhin begann Erdoğan einen systematischen Rachefeldzug gegen die HDP. Städte im Südosten der Türkei mit einem hohen Stimmenanteil für die HDP wurden vom türkischen Militär und den Sicherheitskräften belagert, wobei Hunderte von Menschen ihr Leben verloren. Der über diese Städte verhängte Ausnahmezustand wurde für die Einwohner:innen zur täglichen Routine. Anstatt das Land zu demokratisieren, hat das Erdoğan-Regime den Krieg als politisches Instrument eingesetzt.

Verlängerung des Parlamentsmandats für türkische Truppen im Irak und in Syrien

Am 26. Oktober 2021 wurde im türkischen Parlament eine Resolution verabschiedet, die die Entsendung weiterer Truppen in den Irak und nach Syrien erlaubt - mit anderen Worten, die Fortsetzung der militärischen Invasion und Besetzung dort ermöglicht. Dies war eine weitere Verlängerung von Resolutionen, die das Parlament bereits 2007 für den Irak und 2012 für Syrien verabschiedet hatte. In beiden Ländern baut das türkische Militär eigene Militärstützpunkte auf. Letzte Woche wurde das Mandat um zwei weitere Jahre bis Oktober 2023 verlängert.

Die HDP, die CHP (Republikanische Volkspartei), die TIP (Arbeiterpartei der Türkei) und die DBP (Partei der Demokratischen Regionen) haben den Antrag im Parlament abgelehnt. Auch politische Parteien außerhalb des Parlaments und Nichtregierungsorganisationen sprachen sich gegen das Militärmandat aus. Die Abgeordneten der AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung), der MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) und der IYI (Partei der Guten) stimmten jedoch für den Antrag. Der Ko-Vorsitzende der HDP, Pervin Buldan, nannte das Mandat eine ,Ausweitung von Krieg und Besatzung'.

Die Präsenz und die Aktionen der Türkei in Syrien und im Irak verstoßen gegen das Völkerrecht und die Menschenrechte. Die Türkei begeht massive Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Kürzlich wurde die Türkei von der EU-Kommission als Besatzungsmacht in Nordsyrien (Rojava) bezeichnet. Im Nordirak (Südkurdistan) führt die Türkei seit Jahren einen Krieg gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und baut ihr eigenes Netz von Militärstützpunkten aus.

Einsatz von verbotenen Chemiewaffen

Im Rahmen der laufenden Invasion im Nordirak wurde die Türkei in mehreren Berichten beschuldigt, chemische Waffen eingesetzt zu haben. Der Einsatz von Chemiewaffen ist ein Kriegsverbrechen und ein Verstoß gegen das Völkerrecht. Die Rufe nach einer Untersuchung durch die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) werden immer zahlreicher und lauter - auch von internationalen Frauenorganisationen sowie von kurdischen und arabischen Intellektuellen, sowohl aus dem Nordirak als auch aus dem übrigen Irak.

Seit Wochen finden Proteste statt, und es gab zahlreiche Appelle an die OPCW und die UNO von verschiedenen Stellen. Das Thema wurde in der EU und den europäischen Parlamenten angesprochen, und die Kurdische Freundschaftsgruppe im Europäischen Parlament hat eine Untersuchung der Angriffe gefordert.

Die Türkei hat die Pflicht, sich an die Menschenrechte und die internationalen Gesetze und Normen zu halten. Bislang hat sie dies nicht getan. Wenn das so weitergeht, ist es die Pflicht der internationalen Gremien, die Türkei zur Rechenschaft zu ziehen und rechtliche Maßnahmen zu ergreifen.

Die HDP hat sich seit ihrer Gründung immer für die Menschenrechte und Werte eingesetzt. Dies hat dazu geführt, dass sie systematisch unterdrückt wird. Die HDP wird ihren Kampf für die Demokratisierung fortsetzen und ihr Bestes tun, damit die Türkei die Menschenrechte und die internationalen Gesetze und Normen einhält. Wenn die internationalen Gremien an einer demokratischen Türkei interessiert sind, dann müssen sie die HDP unterstützen und dürfen sie nicht allein lassen. In der Tat ist die HDP, wie oft gesagt wird, die einzige wirkliche Opposition zum Erdoğan-Regime. Die HDP ist die Brücke zu einer demokratischen Türkei."

Titelfoto: HDP-Abgeordnete wollten am 20. Oktober 2019 in Diyarbakir eine Presseerklärung abgeben. Die Polizei hatte sie umzingelt und hinderte sie daran.