Dr. Cengiz Aktar ist als Professor an der Athener Universität tätig. Er ist türkischer Politikwissenschaftler, der zahlreiche Bücher über die Europäische Union und ihre Beziehungen zur Türkei veröffentlicht hat. Aktar ist bekannt dafür, in seinen aktuellen Analysen klare Urteile zu fällen. ANF sprach mit ihm über die laufende Debatte in der Türkei über den Friedensprozess und die Möglichkeit eines neuen Dialogs sowie über die Entwicklungen in Syrien.
Seit dem historischen Aufruf von Abdullah Öcalan am 27. Februar und der Ankündigung eines Waffenstillstands durch die PKK am 1. März ist ein Monat vergangen, ohne dass die Regierung irgendwelche konkreten Schritte unternommen hätte. Gleichzeitig hat sich an Öcalans Bedingungen im Imrali-Gefängnis nichts geändert. Diese aktuellen Debatten in der Türkei beeinflussen laut Aktar auch die Geschehnisse in Syrien.
Syrien: Trotz Unruhen kein Bürgerkrieg
Cengiz Aktar zeigte sich über die Tatsache erleichtert, dass die Situation in Syrien trotz aller Unruhen nicht zu einem ausgewachsenen Bürgerkrieg eskaliert ist. Die Erklärungen des Regimes in Damaskus seien sowohl von der drusischen als auch von der kurdischen Gemeinschaft abgelehnt worden. Aktar bezeichnete die Entwicklungen als „Chaos“ und erklärte, dass die Türkei versuche, militärische Vorposten in der Region zu errichten. Israel, das von den Vereinigten Staaten unterstützt wird, hat sich diesem Plan jedoch widersetzt. Er fügte hinzu, dass Israel die ständige Präsenz der Türkei in Syrien nicht weiter bestehen lassen wolle. Aktar zufolge ist nach wie vor unklar, wer mehr Einfluss auf die von Ahmed al-Scharaa (al-Dschaulani) geführte Regierung hat.
Türkei: Regierung zeigt keinen politischen Willen
Aktar erklärte, die Entwicklungen in Syrien stünden in engem Zusammenhang mit den laufenden Debatten in der Türkei über den Friedensprozess. Mit Hinweis auf die jüngsten Äußerungen des regierenden Blocks, der die Menschen aufforderte, „aufzuhören, es einen Prozess zu nennen“, argumentierte der Politikwissenschaftler, dass der Regierung ein kohärenter Plan fehle. Er verwies auf eine kürzliche Erklärung von Besê Hozat, der Ko-Vorsitzenden des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), zum Stand der Diskussionen. Aktar sagte: „Die Regierung sagte, dass sie nichts geben wird – und in der Tat hat sie nichts gegeben. Qendîl [gemeint ist die KCK-Führung, Anm. d. Red.] weiß genau, was das bedeutet. Die letzte Erklärung von Besê Hozat war sehr klar und direkt.“ Er fügte hinzu, die Regierung habe keine Bereitschaft gezeigt, auf die Forderungen des kurdischen Volkes einzugehen.
„Regierung handelt in einem Zustand der Verwirrung“
Cengiz Aktar ging auf die Verhaftung Ekrem Imamoğlus ein, jüngst abgesetzter Bürgermeister der Stadtverwaltung von Istanbul, und erklärte, die Regierung sei sich ihrer eigenen Absichten nicht sicher und handele in einem Zustand der Verwirrung. „Autoritäre und völlig intransparente Regime ergreifen oft bestimmte Maßnahmen, und es obliegt uns, die wir Politikwissenschaft studiert haben, diese zu interpretieren und ihrem Handeln eine gewisse Logik zuzuordnen. Aber ich bin mir nicht sicher. Ich bezweifle ernsthaft, dass sie wirklich wissen, was sie tun wollen“, lautete Aktars Urteil. Er fügte hinzu, dass die Situation, die sich in Istanbul abspielt, eine allgemeinere Atmosphäre des Chaos widerspiegelt.
Erdoğan und Bahçeli haben einen Pakt des Schicksals geschlossen
Die Vorstellung eines internen Zerwürfnisses zwischen Präsident Recep Tayyip Erdoğan und dem MHP-Vorsitzenden Devlet Bahçeli wies Cengiz Aktar zurück. Er argumentierte, dass die beiden ein politisches Bündnis geschmiedet haben, das durch gemeinsame Interessen und die gegenseitige Abhängigkeit vom Machterhalt verbunden ist. Aktar sagte: „Ich glaube nicht, dass sie die Absicht haben, ihr Amt durch Wahlen zu verlassen. Ich glaube sogar, dass es für sie gar nicht möglich wäre, abzutreten. Dies ist ein kriminelles Netzwerk. Es gibt praktisch keine illegalen oder verfassungswidrigen Handlungen, die sie nicht begangen haben, insbesondere seit 2013. Sollten sie die Macht verlieren, würden sie noch in derselben Nacht hinter Gittern landen. Sie haben die Verfassung und das Gesetz mit Füßen getreten – die Korruption und der Diebstahl sind nochmal wieder eine ganz andere Sache.“ [2013 überwarfen sich Erdoğan und die Gülenisten, welche diesen zuvor zehn Jahre lang an der Macht unterstützten. Seitdem erfüllen Bahçeli und die MHP diese Rolle, Anm. d. Red.]
Die Regierung muss handeln
Cengiz Aktar betonte, dass es in dieser Phase die Aufgabe der Regierung sei, den nächsten Schritt zu tun, merkte jedoch gleichzeitig an: „Die Regierung handelt nicht, weil ihr die Hände gebunden sind; sie hat bereits zugegeben, dass sie nichts tun kann. Sie sprechen von einer ‚Türkei ohne Terrorismus‘ – ein vager und undefinierter Aufruf. Sie haben sogar vorgeschlagen, dass die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) ihren Kongress in Muş abhält. Ich spüre ein erstaunliches Maß an Inkompetenz, gepaart mit einer deutlich überholten und provinziellen Mentalität.“
Keine einheitliche Opposition
Auf die Frage, was die Opposition unter diesen Umständen tun sollte, wies Aktar auf einen beunruhigenden Trend hin und sagte: „Bei einigen der Kundgebungen und Demonstrationen, die zur Unterstützung von Imamoğlu abgehalten werden, gibt es eine klare antikurdische Stimmung. Natürlich nicht von allen, aber es gibt Gruppierungen, die offen ihre Feindseligkeit gegenüber Kurd:innen zum Ausdruck bringen. Es ist also schwierig, von einer einheitlichen Opposition in der Türkei zu sprechen.“ Aktar fügte hinzu, dass die Grundlagen der Regierung antidemokratisch seien, was es einem solchen Regime unmöglich mache, „echte Schritte auf der Grundlage der Menschenrechte oder der Demokratie zu unternehmen“.