In den vergangenen drei Jahren wurden in Belgien fünf Gerichtsentscheidungen im Sinne der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) gefällt. Auch die letzte Berufungsinstanz hatte festgestellt, dass die PKK keine „Terrororganisation“, „sondern eine Partei in einem nichtinternationalen bewaffneten Konflikt“ sei. Im November hatte der europäische Gerichtshof in Luxemburg die Gründe für die Aufnahme der PKK im beklagten Zeitraum (2014–2017) für nicht ausreichend befunden und die Liste annulliert. Gegen diese Entscheidung wurde von England im Namen der EU Widerspruch eingelegt. 2018 wurde die PKK per Automatismus erneut auf die Terrorliste gesetzt, obwohl keine neuen Argumente dafür vorgebracht werden konnten. Im März hat die kurdische Seite der neuen Listung ebenfalls widersprochen.
ANF sprach mit dem Ko-Vorsitzenden des kurdischen Volkskongresses Kongra-Gel, Remzi Kartal, über die politischen Konsequenzen der beiden Gerichtsentscheidungen.
Entwicklungen beruhen auf Änderung der Kurdenpolitik
Wie sind die belgischen Urteile im Sinne der PKK politisch zu bewerten?
Die kurdische Frage ist eine internationale Frage, in der Europa von Beginn an, also seit dem Ersten Weltkrieg bis heute eine direkte Rolle gespielt hat. Dies gilt insbesondere für die Unterstützung der Verweigerungs- und Verleugnungspolitik gegenüber der kurdischen Frage durch den NATO-Mitgliedsstaat Türkei, die damit zusammenhängende Listung der PKK als „Terrororganisation“ und die Politik der Verbote und der Repression gegen kurdische Institutionen in Europa. Diese Politik wird bis zum heutigen Tag fortgesetzt. Die internationalen Mächte, allen voran Europa und die USA, folgen diesem Kurs. Aber der Kampf im Mittleren Osten, insbesondere der Kampf der Kurd*innen in Syrien, das weltweite Bekanntwerden des Frauenfreiheitskampfes, der Kampf gegen den IS, die an den Prinzipien von Demokratie, Gleichheit und Freiheit orientierte Revolution von Rojava und ihr Ausstrahlen auf ganz Nord- und Ostsyrien, haben zu einer Änderung der Politik in Bezug auf die kurdische Frage geführt. Die Türkei verfolgt immer noch die alte Politik und zwingt diese dem internationalen System, insbesondere der internationalen Gemeinschaft, auf. Aber sie passt nicht zur aktuellen Situation im Mittleren Osten und wird durch den großen Kampf der Kurd*innen gestört. Deshalb bedarf es einer Änderung dieser kriminalisierenden Politik der Terrorlisten gegenüber den Kurd*innen. So wie es sich bei der Aufnahme der PKK auf die Terrorliste um eine politische Entscheidung handelt, so steht auch hinter den Entscheidungen der Gerichte heute ein politischer Wille. Wir können sagen, dass es ihnen von der aktuellen Phase aufgezwungen worden ist.
Die juristische Grundlage des Verfahrens war ebenfalls schwach, nicht wahr?
Es handelte sich bei der Ermittlung und der Eröffnung des Verfahrens sowieso um eine politische und keine juristische Entscheidung. Die PKK ist heute von den Gerichten als eine Realität akzeptiert worden. Als eine Partei im Kampf um die kurdische Frage in Kurdistan. Die eine Seite ist der türkische Kolonialstaat, die andere die PKK, die den Willen des kurdischen Volkes repräsentiert. Diese Frage ist eine politische Frage. Sie muss auf der Grundlage des Völkerrechts gelöst werden. Das Problem muss nach dem internationalen Kriegsrecht behandelt werden. Die Türkei ist jedoch nicht bereit, dies zu akzeptieren, sie hat vier Mal dagegen Widerspruch eingelegt. Aber aus den Widersprüchen kommt nun auch nichts mehr heraus. Denn bei jedem Widerspruch ergeht die Forderung an die Türkei neue Beweise vorzubringen, wie zu begründen sei, dass es sich bei der PKK um eine Terrororganisation handelt. Die Gründe, die dafür in der Vergangenheit angeführt wurden, werden nun von den Gerichten kassiert. Wir haben zusammen mit unseren Anwält*innen diese Taktik des türkischen Staates zum Scheitern gebracht. Ja, die PKK ist eine kämpfende Partei und muss als solche im Rahmen internationalen Rechts betrachtet werden. Das ist die juristische Dimension der Frage. Die politische Dimension zeigt sich selbst, sie drängt zur Lösung. Auf diese Weise wird die Türkei immer größere Schwierigkeiten bekommen.
Wie geht es jetzt auf juristischer Ebene weiter?
Die kurdischen Institutionen und auch die Jurist*innen, welche die kurdische Frage verfolgen, werden kollektiv auf der Ebene der europäischen Staaten und internationalen Institutionen für die Streichung der PKK von der Terrorliste und in den Ländern, in denen die PKK verboten ist, einen umfassenden juristischen Kampf führen.
Wie bewerten sie den juristischen Kampf gegen die „Terrorliste“ vor dem Europäischen Gerichtshof?
Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg hat diesbezüglich eine Entscheidung getroffen. Die gegen England in Vertretung der EU als Partei, welche die PKK in den Jahren zwischen 2014 und 2017 auf die Terrorliste nahm, gefällte Entscheidung lautet: Die angeführten Gründe reichen nicht aus, einen Verbleib der PKK auf der „Terrorliste“ zu rechtfertigen. Mit dieser Begründung kann die PKK nicht auf der Liste bleiben. Wenn es neue Anschuldigen geben sollte, dann sollten sie auch vorgelegt werden. Dennoch hat England 2018 erneut den Antrag gestellt, die PKK auf die „Terrorliste“ zu setzen. Aber mit den alten Argumenten, den alten Anschuldigungen, es gibt nichts neues. Daher wird dabei nichts neues herauskommen und sie werden wieder abgewiesen werden. Die Entscheidungen in Belgien und in Luxemburg stellen sowohl im Rahmen der internationalen Institutionen als auch im nationalen Rahmen Präzedenzfälle dar, um die Verbotspolitik gegen die PKK und die repressive Haltung gegenüber der kurdischen Frage aufzuheben. Es finden umfassende Arbeiten in diese Richtung statt.
Gibt es in den Ländern konkrete Arbeiten gegen die Verbotspolitik?
Ohne Zweifel, insbesondere in Deutschland gibt es intensive Bemühungen gegen die Verbote vorzugehen. Deutschland hat diese Verbote mit der Begründung in Kraft gesetzt, bei der PKK handele es sich um eine Terrororganisation. Aber in Belgien ist die Entscheidung gefällt worden, dass die PKK keine Terrororganisation ist, und es wird sowohl in Deutschland als auch in England – wie auch in den Ländern, in denen ähnliche Verbote bestehen – ein umfassender Kampf gegen die Verbote geführt werden. Die Vorbereitungen dafür sind im Gange.
Haben die Entscheidungen der Gerichte auch eine negative Seite? Können sie feststellen, dass die Gefahr für sie gebannt ist?
Die Türkei hat eine Protestnote gegen die belgische Gerichtsentscheidung eingereicht. Aber dies ist eine Entscheidung der Justiz. So sehr wir auch betonen, dass es sich um das Ergebnis einer neuen Haltung im internationalen Rahmen gegenüber der kurdischen Frage handelt, so sind die Entscheidungen dennoch auch Ausdruck eines juristischen Verfahrens. Trotz der Proteste der Türkei gab es weder ein politisches noch ein juristisches Entgegenkommen. Aber trotz alledem bestehen zwischen diesen Ländern sehr enge ökonomische und politische Beziehungen. Deswegen sind die kurdischen Politiker*innen weiterhin vom türkischen Staat bedroht. Trotz der Gerichtsentscheidung braucht es einen Kampf gegen die Beschneidung der Rechte und Freiheiten von Kurd*innen in Europa, welche die Türkei mit Hilfe von Interpol umsetzt. Dies wird ebenfalls Teil des zu führenden juristischen Kampfes sein. Ja, diese Gerichtsentscheidungen sind wichtig, aber die Drohungen der Türkei und ihre politischen Interessen bestehen fort. Deshalb bestehen konkrete Gefahren für kurdische Institutionen und kurdische Politiker*innen.
Könnte man sagen, dass für die PKK eine neue Phase begonnen hat?
Die Entscheidungen in Belgien und Luxemburg zeigen, dass für die PKK, die kurdische Bewegungen, die kurdischen Institutionen und die kurdischen Politiker*innen eine neue Phase begonnen hat. Deshalb sollte unser Volk einen viel wirksameren juristischen Kampf gegen die Repression, Verbote und Beschränkungen in den Ländern, in denen es lebt, führen. Das Verbot der PKK und ihre Aufnahme in die „Terrorliste“ sowie der antidemokratische Umgang mit einzelnen Personen ist inakzeptabel. Hier muss ein wirksamer Kampf geführt werden, bei dem diese Entscheidungen als Präzedenzfälle angeführt werden.