Cemil Bayik hat als Ko-Vorsitzender der KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans) Fragen der US-amerikanischen Publikation Responsible Statecraft beantwortet. Wir veröffentlichen den zweiten Teil des Interviews.
Haben Sie im Irak türkische Kriegsgefangene getötet? Bisher haben Sie das bestritten. Sollte die Welt Ihrer Geschichte glauben?
Unsere Haltung gegenüber Kriegsgefangenen ist leicht in Erfahrung zu bringen, wenn man sich unsere 40-jährige Bilanz in dieser Hinsicht ansieht. Unsere Bewegung kann für andere Dinge kritisiert werden, aber niemals für ihre Herangehensweise an Kriegsgefangene. Wir haben schon viele Male dutzende von Kriegsgefangenen freigelassen. Keiner von ihnen hat sich jemals über negative Behandlung durch uns beklagt. Alle zeigten positive Reaktionen in Bezug auf unsere Kriegsgefangenenpolitik. Unser Umgang mit Kriegsgefangenen steht im Einklang mit den Konventionen der UN. Unsere Praxis spricht in dieser Hinsicht Bände. Bei dem was in Gare passiert ist, handelt es sich um eine mittels 50 Kampfjets vier Tage andauernde Bombardierung eines Lagers, in dem Kriegsgefangene untergebracht waren. Die geographische Struktur des Gebietes ist durch diese schweren Bombardierungen verändert worden. Infolgedessen verloren sowohl die Kriegsgefangenen als auch die sie bewachenden Guerillakämpfer ihr Leben. Bei der Hälfte der Guerillakämpfer, die die Kriegsgefangenen bewachten, gibt es keine Spuren von Einschüssen. Dies zeigt, dass der türkische Staat Chemiewaffen gegen das Lager eingesetzt hat. Jeder erkennt die Tatsache an, dass diese Kriegsgefangenen bis zum Tag der Operation in Sicherheit waren. Ihr Tod war die Folge von schweren Bombardierungen und Zusammenstößen.
Auch innerhalb des Lagers für die Kriegsgefangenen ist es zu schweren Zusammenstößen gekommen. Da es der türkischen Armee nicht gelang, den Widerstand der Guerilla zu brechen, setzte sie chemische Kampfstoffe ein, um in das Lager einzudringen. Da chemische Waffen wahllos töten, kann man leicht erkennen, wer die Verantwortung für den Tod der Kriegsgefangenen trägt. Die Kommandantur der Guerilla hat ohnehin eine unabhängige Untersuchung vor Ort gefordert.
Die Vereinigten Staaten von Amerika stufen Sie als Terrororganisation ein. Glauben Sie, dass die USA Sie von dieser Liste streichen sollten? Hat sich Ihre Ausrichtung seit dem Kalten Krieg wirklich verändert?
Die Aufnahme der PKK in die Terrorliste durch die Vereinigten Staaten basiert vollständig auf politischen Gründen. Sie haben eine solche Entscheidung getroffen, um ihren NATO-Verbündeten, die Türkei, zu beschwichtigen. Die Führung auf der Terrorliste ist auf Druck der Türkei auf die US-Regierung entstanden. Unsere Guerillakräfte haben nie eine militärische Aktion, direkt oder indirekt, gegen die Vereinigten Staaten von Amerika unternommen. Das Gleiche gilt auch für die EU. In diesem Sinne kommt die Bezeichnung des Freiheitskampfes eines Volkes aus politischen Interessen als Terrorismus einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit gleich. Die USA begehen ein Verbrechen am kurdischen Volk. Sie sind verantwortlich für die Gefangenschaft und Inhaftierung von Rêber Apo [Abdullah Öcalan]. Von einer solchen Politik und Praxis sollten sie Abstand nehmen. Die US-Regierung hat kein legitimes Recht, im Namen der Bevölkerung der Vereinigten Staaten Entscheidungen gegen den Freiheitskampf des kurdischen Volkes zu treffen. Die USA haben Kopfgeld auf uns ausgesetzt. Das ist absolutes Unrecht und eine Respektlosigkeit. Die US-Regierung muss in dieser Hinsicht Selbstkritik üben. Andernfalls wird die Geschichte sie für die Mitschuld beim Völkermord am kurdischen Volk und damit für ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilen.
Seit den 1990er Jahren hat unsere Freiheitsbewegung große Veränderungen durchgemacht. Es gibt keine ideologischen und politischen Auswirkungen der Ära des Kalten Krieges mehr auf unsere Bewegung. Aber die USA verhalten sich immer noch entsprechend der Reflexe des Kalten Krieges. Sie haben die Visionen, Argumente und Politik, die für die Ära des Kalten Krieges charakteristisch waren, weitgehend beibehalten.
Unsere Freiheitsbewegung verteidigt den demokratischen Sozialismus innerhalb des konzeptionellen Rahmens der „Demokratischen Moderne“. Wir glauben, dass der Sozialismus ohne Demokratie niemals erreicht werden kann und dass solche Konzepte wie „Diktatur der Proletariats“ falsch und antidemokratisch sind. Wir machen keinen Unterschied zwischen Demokratie und Sozialismus. Wir vertreten nicht mehr das klassische Verständnis, dass Staaten mit Gewalt gestürzt werden sollten. Unser Kampf basiert auf der Formel „Staat + Demokratie“. Wir haben die klassischen Revolutionsvorstellungen aufgegeben und den Ansatz der gesellschaftlichen Demokratie aufrechterhalten, während wir viele radikale Veränderungen durchlaufen sind. Seit den 1990er Jahren hat unsere Freiheitsbewegung historisch große Umwälzungen in Bezug auf die Mentalität und das Bewusstsein durchgemacht. Wir verteidigen die radikale Demokratie, und nicht die kontrollierte Demokratie. Die drei Hauptsäulen der radikalen Demokratie sind die Emanzipation der Frau, die gesellschaftliche Demokratie und die Ökologie. Wir sind Pioniere bei der Förderung dieser Werte auf globaler Ebene.
Unser Verständnis von Freiheit kann am besten mit den Worten von Rêber Apo, Herrn Abdullah Öcalan, verstanden werden, wenn er sagt: „Die Freiheit der Frau ist wertvoller als nationale und Klassenfreiheit“. Er betrachtet ökologisches Wissen als das grundlegendste Wissen. Die USA und die EU wissen um die Veränderungen, die wir durchgemacht haben. Aber sie erkennen diese Realität nicht an. Wahrscheinlich finden sie unsere Vorstellung von Demokratie zu radikal, um sie anzuerkennen.
US-Präsident Biden hat kürzlich die Huthis von der Terrorliste streichen lassen. Einige Kreise in Washington sprechen sich für die Notwendigkeit aus, Sie zu kontaktieren, vor allem weil es einen Krieg gegen den islamistischen Terrorismus gibt. Glauben Sie, dass die Biden-Regierung Ihre Einordnung als Terrororganisation auf der Liste überprüfen wird?
Biden weiß, dass wir den größten Kampf gegen den IS geführt haben. Einige unserer ehrenhaftesten und wertvollsten Mitglieder sind im Kampf gegen den IS, insbesondere in Rojava, gefallen. Wir haben eine entscheidende Rolle für den Sieg von Rojava im Kampf gegen den IS gespielt. Wie wurde Raqqa befreit? Es ist seltsam, dass einige Leute über den Sieg über den IS in Raqqa sprechen, aber die entscheidende Rolle tausender Guerillakämpfer, die diesen Sieg durch das Opfer ihres eigenen Lebens sichergestellt haben, ignorieren. Das ist ein völlig inakzeptabler Ansatz und unvereinbar mit jeglicher Ethik, mit Gewissen, Rechtschaffenheit und Integrität. Ihr könnt euch nicht hinstellen und sagen, es ist gut, wenn ihr sterbt, aber schlecht, wenn ihr lebt. Die Aufnahme der PKK auf die Terrorliste ist zu einer Last auf den Schultern der US-Politik geworden, von der sie sich befreien muss. Die Streichung der PKK sollte das Hauptanliegen der neuen US-Regierung sein. Wie kommt es, dass sie kein Wort über das unmenschliche Vorgehen des türkischen Staates und seine Unterstützung für den IS verliert, aber gegen die PKK vorgeht? Das ist das größte Unrecht in der Geschichte der PKK – einer Bewegung, die einen Freiheitskampf gegen die schmutzigen Ambitionen des Hauptunterstützers des IS, den türkischen Staat, führt.
Der Gerechtigkeitssinn und das Gewissen der Bevölkerung der Vereinigten Staaten können diese Ungerechtigkeit nicht akzeptieren. Die Verantwortlichen, die den Namen der PKK auf die Terrorliste gesetzt haben, haben die Autorität, die ihnen das amerikanische Volk verliehen hat, offen missbraucht. Als der damalige Präsident Obama an die Macht kam, haben wir ihn gebeten, diese Ungerechtigkeit gegenüber der PKK zu korrigieren. Diese Ungerechtigkeit zu berichtigen, wird ein Gradmesser für Präsident Bidens Sinn für Gerechtigkeit, Rechtschaffenheit und Gewissen sein. Die Ausschreibung zur Fahndung von drei PKK-Führungskräften wurde von der Trump-Administration aufgrund deren engen Beziehung zu Erdoğan getroffen. Wenn es einen Wandel in der regionalen und türkischen Politik der Trump-Ära geben soll, muss auch diese Ausschreibung widerrufen werden.
Haben Sie in den letzten Jahren Kontakt zu den Vereinigten Staaten aufgenommen? Und wenn ja, geschah das durch Vermittler in Rojava und Şengal oder direkt?
Von Zeit zu Zeit haben wir über Rojava und Şengal indirekte Nachrichten ausgetauscht. Auch Briefe an die US-Regierungen wurden geschickt. Durch verschiedene Vermittler haben einige unserer Einheiten eine Reihe von Gesprächen mit US-Einheiten auf lokaler Ebene gehabt. Sie wollten wohl unsere Ansichten kennenlernen. Es waren keine Gespräche auf hoher Ebene. Da wir den legitimsten Kampf in der Welt führen, sind wir von unseren Ansichten, unserer Rechtmäßigkeit und unserer Politik überzeugt. Deshalb können wir uns mit allen Seiten treffen. Wir haben keine Vorbehalte, verschiedene Parteien zu treffen. Obwohl wir seit etwa 50 Jahren einen Kampf gegen den türkischen Staat führen, hatten wir diverse Treffen und Kontakte. Wir vertrauen auf uns. Wir bauen alle Arten von Beziehungen auf, von denen wir denken, dass sie im Interesse des Kampfes unseres Volkes für Freiheit und Demokratie sind. Aber wir bauen keine Beziehungen zu einer Partei auf Kosten der Interessen einer anderen Partei auf. Wir werden uns niemals auf Beziehungen einlassen, die unseren freien Willen unterdrücken und belasten würden. Wenn die Vereinigten Staaten eine Politik zugunsten der Lösung der kurdischen Frage und der Demokratisierung machen würden, warum sollten wir uns dem entgegenstellen? In dieser Hinsicht haben wir an die Vereinigten Staaten bereits mehrfach appelliert, ihre Rolle einzunehmen. Denn das Haupthindernis auf dem Weg zur Demokratisierung und zur Lösung der kurdischen Frage ist das NATO-Mitglied und die US-Verbündete Türkei. Wir appellieren erneut an die Vereinigten Staaten und die NATO, nicht die völkermörderische Politik der Türkei gegen die Kurden zu unterstützen und zu begünstigen.
Barack Obama hatte den Schwenk weg vom Nahen Osten und Europa vorgezeichnet und den Blick zunehmend auf den Fernen Osten gerichtet. US-Präsident Biden ging im ersten Monat nach seiner Wahl keine Telefon-Diplomatie mit den Staatschefs des Nahen Ostens ein. Glauben Sie, dass der Nahe Osten für die USA keine Priorität mehr hat? Ist das eine positive oder eine negative Entwicklung aus Ihrer Sicht und der Ihrer Partei?
Es heißt, der Fokus würde künftig mehr auf Fernost und weniger auf dem Nahen Osten liegen. Dies ist vor allem eine wirtschaftliche Perspektive und spielt die Rolle von Geschichte und Kultur herunter. Im Kapitalismus hängt alles am Konsum. Folglich sind Diskurse von einem großen Konsumentenmarkt in Fernost oberflächliche Betrachtungsweisen. Der Nahe Osten hat einen tief verwurzelten kulturellen und historischen Hintergrund. Es ist verkehrt, ihn mit Blick auf die derzeitige Situation geringzuschätzen. Andererseits wäre es ebenfalls verkehrt, den Nahen Osten von Europa zu separieren. Das tief verwurzelte kulturelle und historische Erbe des Nahen Ostens und seine geografische Nähe zu Europa haben einen großen Beitrag zu dessen Fortschritt geleistet. Heute ist Europa in gewisser Weise mit dem Nahen Osten verbunden. Weder die strategische Bedeutung Europas noch die des Nahen Ostens nimmt ab.
Der Nahe Osten und seine Umgebung sind nach wie vor die Heimat der komplexesten Agenda der internationalen Politik. Der IS war eine gemeinsame Herausforderung, es gab Interventionen im Irak und in Afghanistan. Auf der anderen Seite sollten wir nicht vergessen, dass Israel ein Teil des Nahen Ostens ist. Ein Blick auf die geografische Lage des Nahen Ostens genügt, um seine Bedeutung zu verstehen.
Wir wollen nicht auf die positiven und negativen Dimensionen der Veränderungen in den Interessenschwerpunkten der USA eingehen. Wir glauben nicht, dass die Bedeutung des Nahen Ostens abnehmen wird. Im Übrigen ist es in einer zunehmend globalisierten Welt nicht vorstellbar, dass die Bedeutung des Nahen Ostens abnehmen wird. Es gibt Gründe, die das Gegenteil nahelegen.
Was Kurdistan betrifft, so wird es seine Bedeutung bewahren. Allein schon der demokratische Kampf des kurdischen Volkes und seine von der Idee einer Demokratischen Nation inspirierte Vorreiterrolle bei der Gewährleistung des friedlichen Zusammenlebens verschiedener ethnischer und religiöser Gemeinschaften hat die Bedeutung Kurdistans steigen lassen. Die Kurden sind mit ihrer Kultur und Politik zu einem Pfeiler für Frieden, Stabilität und Demokratie im Nahen Osten geworden.
Seit geraumer Zeit nimmt Europa eine durchsetzungsfähigere und unabhängigere Rolle gegenüber dem Nahen Osten ein. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron etwa greift in die Krise im Libanon und den Konflikt im Mittelmeer zwischen Griechenland und der Türkei ein. Erwarten Sie europäische Initiativen für Ihre Sache? Und wie würden Sie allgemein Ihre Beziehung zu Europa beschreiben?
Das Interesse der europäischen Länder am Nahen Osten ist verständlich und ohnehin eine Erfordernis. Aber es muss auf positiven Ansätzen beruhen. Wir sehen keinen großen Unterschied zwischen Europa und dem Nahen Osten und befürworten Beziehungen auf gegenseitigen Interessen. Frankreich und das Vereinigte Königreich etwa haben eine historische Verantwortung gegenüber dem Nahen Osten. Es sieht so aus, als hätten die USA diese Verantwortung von den Briten übernommen oder untereinander aufgeteilt. Frankreich zeigte schon immer Interesse am Libanon und an Syrien. Hier gleichgültig zu bleiben, würde letzlich die Verbindung Frankreichs zum Nahen Osten kappen. Die USA wissen um den fanzösischen Einfluss in Syrien und im Libanon und verfolgen hier eine gemeinsame Politik.
Wir wären Initiativen von Europa zur Lösung der kurdische Frage nicht abgeneigt. Maßgeblich verantwortlich für das Aufkommen der kurdischen Frage nach dem Ersten Weltkrieg waren schließlich Großbritannien und Frankreich. In Lausanne erhielt der türkische Staat im Austausch gegen Mosul und Kerkûk die Ermächtigung, einen Völkermord an den Kurden zu begehen. Oder der türkische Staat überließ Mosul und Kirkuk der britischen Hegemonie, um den kurdischen Genozid zu vollziehen. Insofern erwarten wir, dass Europa als Schöpfer der kurdischen Frage nicht länger die türkische Vernichtungspolitik unterstützt, sondern eine positive Rolle bei der Lösung des Problems spielt.
In Europa lebt eine bedeutende Anzahl von Kurdinnen und Kurden. Auf diese Weise führen wir Beziehungen mit europäischen Ländern, die verschiedene Aspekte umfassen. Wir haben einen positiven Einfluss auf die demokratische Öffentlichkeit in Europa. Auch existieren bis zu einem gewissen Grad Beziehungen zu politischen Kräften. Doch aufgrund interessenbedingter Bindungen an die Türkei, die vor allem aus der gemeinsamen NATO-Mitgliedschaft resultieren, haben diese Beziehungen nur einen begrenzten Einfluss auf die Politik der europäischen Länder. Sie kennen unsere Bewegung und erkennen ihre positive Rolle bei der Demokratisierung der Türkei und des Nahen Ostens an. Aber die Beziehungen zur Türkei bringen sie wie bereits zur Zeit des Kalten Krieges immer noch an den Punkt, die Türkei zu unterstützen. In diesem Sinne sind sie Verbündete der türkischen Vernichtungspolitik gegenüber den Kurden.
US-Präsident Joe Biden hatte jüngst eine Rückkehr zum Atomabkommen mit Iran in Aussicht gestellt und zur Wiederaufnahme der Verhandlungen zur Atomfrage aufgerufen. Sehen Sie unabhängig vom Erfolg dieser Dialoge eine Entwicklung, die sich positiv oder negativ auf die Kurden und Ihre Bewegung auswirkt? Was halten Sie von dem Abkommen von 2015?
Wir befürworten weder die Herstellung von Atomwaffen noch irgendwelche Sanktionen. Unserer Meinung nach hat beides negative Auswirkungen auf die Völker. Wären die Absichten beider Seiten aufrichtig gewesen, hätte man aus dem Abkommen von 2015 positive Bilanz ziehen können. Nichts ist falscher und gefährlicher als die Existenz von Atomwaffen im Nahen Osten. Atomwaffen sollten nicht als ein Werkzeug zur Demonstration von Stärke gesehen werden. Das wäre unethisch und ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wie man im Zweiten Weltkrieg gesehen hat. Atomwaffen sind nicht nur für die Kurden schädlich, sondern für alle Völker des Iran. Ambitionen zum Besitz von Atomwaffen zu haben bedeutet, die Denkweisen aus dem Kalten Krieg nicht überwunden zu haben. Der Erfolg des Abkommens von 2015 würde für alle Völker des Nahen Ostens positive Ergebnisse bringen. In Anbetracht der Tatsache, dass Demokratisierung der beste Ansatz zur Lösung der Probleme im Iran ist, sollte sich die öffentliche Meinung im In- und Ausland nicht nur mit der Atomfrage beschäftigen. Die Islamische Republik Iran muss sich einem Demokratisierungsprozess unterziehen. Deshalb hat Rêber Apo den Begriff des Demokratischen Islam gefördert. Wir betrachten die demokratischen islamischen Kräfte als Teile und Komponenten des demokratischen Lebens.
Mustafa al-Kadhimi gilt als der Ministerpräsident des Iraks, der die Souveränität des Landes wieder herstellen wird. Glauben Sie, dass er der Einmischung der Türkei und des Iran in innere Angelegenheiten entgegenwirken wird? Und was würde dies für Ihre Partei bedeuten? Sie bewegen sich auf irakischem Staatsgebiet. Wie sind Ihre Beziehungen zu Bagdad?
Al-Kadhimi ist nicht in der Lage, sich dem Iran und der Türkei entgegenzustellen. Er besitzt nicht die nötige Macht dafür. Die Souveränität des Irak kann durch die Annahme einer bestimmten Geisteshaltung gewährleistet werden, nicht durch die Ernennung einer bestimmten Person. Der Irak muss sich das Konzept der demokratischen Nation zu eigen machen. Das heißt, es bedarf eines ideologischen und politischen Ansatzes, der die friedliche Koexistenz aller ethnischen und religiösen Gemeinschaften gewährleisten kann. Weder Sektarismus noch Nationalismus sollten im Irak die Oberhand gewinnen. Die Demokratisierung des Irak wird es anderen schwer machen, sich in die inneren Angelegenheiten des Landes einzumischen. Wir sind gegen jede Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Irak.
Unsere Kräfte befinden sich hauptsächlich in den Medya-Verteidigungsgebieten in Position. Das sind Regionen an der Grenze zur Türkei. In Kooperation mit der KDP (Demokratische Partei Kurdistans, abgekürzt auch PDK, Anm. d. Red.) greift die Türkei diese Regionen an. Der Irak ist zu schwach, um sich gegen diese Angriffe zur Wehr zu setzen. Unsere Beziehungen zum Irak sind nicht schlecht. Unsere Haltung und die Positionierung unserer Kräfte richtet sich ohnehin nicht gegen den Irak. Doch sowohl die Türkei als auch Iran üben hin und wieder Druck auf den Irak aus, um das Land gegen uns aufzubringen. Da aber unsere Präsenz keine Gefahr für den Irak darstellt, bleiben diese Bemühungen in der Regel ohne Ergebnis. Im Kampf gegen den IS hatte der ehemalige Ministerpräsident Haider al-Abadi der KCK seinen Dank für den Schutz der irakischen Bürger ausgesprochen. Der Irak war das Land, das unsere Rolle im Kampf gegen den IS und den Preis, den wir dafür bezahlt haben, als erstes zu schätzen wusste. Der KDP-Vorsitzende Mesud Barzani dankte unserer Guerilla ebenfalls für ihren Einsatz gegen den IS und ihre Rolle bei der Verteidigung von Hewlêr (Erbil). Doch danach billigte und legitimierte er die Angriffe der Türkei gegen die Guerillakräfte, denen er gedankt hatte.
Von einer engen Beziehung zum Irak kann aber nicht die Rede sein. Von Zeit zu Zeit führen unsere Kräfte in verschiedenen Regionen Gespräche mit irakischen Vertretern. Das Ziel dabei ist es, die Politik des jeweils anderen zu verstehen. Wir haben sie jedoch dafür kritisiert, dass sie am 9. Oktober 2020 mit der KDP das Şengal-Abkommen geschlossen haben, ohne die Eziden mit einzubeziehen. Es ist völlig unvereinbar mit dem Gewissen, mit Fairness oder politischer Moral, dass der Irak und die KDP ohne Beteiligung der ezidischen Kräfte, die ihre Region seit sechs Jahren gegen den IS verteidigen, einen Vertrag aushandeln. Denn sie waren es, die Şengal dem IS überließen. Die Umsetzung verläuft ohnehin nicht nach Plan. Selbst die USA, die zuvor vom Irak, der Türkei und der KDP eine Lösung für die Şengal-Frage gefordert hatten, erkennen mittlerweile, dass der Ausschluss des Willens der Eziden aus diesem Abkommen nicht konstruktiv ist. Die USA sollten inzwischen zu dem Schluss gekommen sein, dass die beste Lösung diejenige ist, bei der die Eziden eine aktive Rolle spielen.