Bayik: Wir verteidigen den demokratischen Sozialismus - 1

Der KCK-Vorsitzende Cemil Bayik hat auf kritische Fragen von Responsible Statecraft zum Verhältnis zwischen der PKK und Rojava, dem vermeintlichen Zentralismus in der kurdischen Bewegung und der technologischen Unterlegenheit der Guerilla geantwortet.

Cemil Bayik hat als Ko-Vorsitzender der KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans) Fragen der US-amerikanischen Publikation Responsible Statecraft beantwortet. Wir veröffentlichen den ersten Teil des Interviews.

Einige Stimmen behaupten, dass Sie eine Last für Rojava sind und große Probleme verursachen. Es wird davon ausgegangen, dass führende Persönlichkeiten wie Mazlum Abdi und Ilham Ehmed sich zusammen mit Ihnen und der PKK-Führung bewegen. Wie ist Ihre Beziehung zu Rojava?

Ich habe keine Informationen darüber, auf welcher Argumentation die Behauptung beruht, unsere Bewegung stelle eine Last für Rojava dar. Fakt ist, dass diejenigen, die solche Behauptungen aufstellen, über keinerlei Kenntnisse zur jüngeren Geschichte Syriens und Rojavas verfügen.

Die Revolution von Rojava hat große Auswirkungen auf die gesamte Menschheit. In Rojava hat sich eine demokratische Revolution vollzogen, deren treibende Kraft die Frauenrevolution ist. Die Bevölkerung von Rojava steht mit allen gesellschaftlichen Gruppen einschließlich der Frauen, der Jugend und älteren Menschen für einen demokratischen Willen. Es gibt dort keinen Platz für die Hegemonie nationalistischer Souveränitätsvorstellungen und sektiererischer Ideologien. Unterschiedliche Identitäten und religiöse Gruppen leben frei nach dem Prinzip der friedlichen Koexistenz. Diese Fakten sind ein Modell nicht nur für Syrien und den Nahen Osten, sondern für die gesamte Welt. Die Menschen in Rojava haben sich gegen das baathistische Regime erhoben und ihre Gebiete befreit. Sie haben den IS besiegt, indem sie sich auf ihr freiheitliches und demokratisches System gestützt haben.

In diesem von Kurden, Arabern, Suryoye, Tscherkessen und Turkmenen Schulter an Schulter ausgefochtenen Kampf sind zwölftausend Menschen gefallen. Der IS ist jedoch nicht nur durch militärische Stärke besiegt worden: Seine Niederlage basiert auf dem Paradigma der demokratischen Nation und der emanzipatorischen Qualität, die für die Revolution von Rojava charakteristisch ist. Ohne diesen theoretischen und politischen Ansatz hätte die Mehrheit der arabischen Völker im Irak und in Syrien den IS unterstützt, was einen Sieg unmöglich gemacht hätte. Das in Rojava hervorgebrachte Verständnis für Demokratie und der politische Ansatz der Völker sind ein direktes Ergebnis der Auswirkungen der Ideen von Rêber Apo [Abdullah Öcalan]. Er hat zwanzig Jahre in der Region gelebt und in allen Lebensbereichen der Kurden einen prägenden Einfluss hinterlassen.

Wie kommt es, dass die Wirkung von Rêber Apo und der PKK auf Rojava als Belastung interpretiert wird? Der Einfluss von Apo auf die Völker von Rojava hat keinerlei Probleme verursacht. Ganz im Gegenteil hat er für die Lösung einiger Probleme gesorgt, die in der Vergangenheit als unlösbar galten. Wäre die Revolution in Rojava nicht von den Ideen Rêper Apos beeinflusst worden, hätte weder Rojava die Freiheit erlangt noch wäre der IS besiegt worden. Hätten seine Ideen keine Früchte getragen, hätte der IS die ezidische Existenz in Şengal ausgelöscht und Südkurdistan besetzt.

Tausende Guerillakämpfer aus den Reihen der PKK sind nach Rojava gegangen und im Kampf gegen den IS gefallen. Sie kamen aus allen Teilen Kurdistans. Wie ist es möglich, sie als Last für Rojava zu sehen? Tausende PKK-Sympathisanten aus Nordkurdistan, junge Frauen und Männer, sind unbeirrt von den Angriffen und Hindernissen der türkischen Armee und Polizei über die Grenzzäune gestiegen und haben sich dem Kampf gegen den IS in Rojava angeschlossen. Wie können sie als Last betrachtet werden! Hätte unsere Guerilla keine entscheidende Rolle gespielt, wäre Raqqa nicht befreit worden. Während die PKK es verdient, für ihre entscheidende Rolle in Rojava gewürdigt zu werden, wird sie von einigen als Last angesehen. Das ist vollkommen unvereinbar mit jeglichem Sinn für Gerechtigkeit und Fairness. Wir geben den Kurden überall im Einklang mit Demokratie und Freiheit positive Impulse für ihren Kampf. Wir haben zu keinem Zeitpunkt negative Entwicklungen gefördert. Ganz im Gegenteil ist unsere positive Wirkung nicht zu übersehen.

Mazlum Abdi und Ilham Ehmed etwa waren jahrzehntelang in leitender Funktion bei der PKK. Diese Tatsache ist in den USA, in Europa, der Türkei und dem Rest der Welt bekannt. Als in Syrien eine Krise ausbrach, wollten sie nach Rojava gehen, um ihr Volk zu verteidigen und einen Befreiungskampf für das Land zu führen, in dem sie geboren wurden. Es war ihr gutes Recht, diese Forderung zu stellen. Also gingen sie zurück. Sie schlossen sich der Revolution an und übernahmen Verantwortung im Kampf des kurdischen Volkes. Das kurdische Volk hatte dort bereits einen gewissen Grad an Selbstorganisierung erreicht. Mazlum Abdi und Ilham Ehmed hielten sich über Jahrzehnte in unseren Reihen auf und so ist es nur natürlich, dass sie von der PKK geprägt wurden. Es ist unmöglich, bei der PKK zu sein, ohne von ihr geprägt zu werden. Die positiven Eigenschaften, die Abdi und Ehmed besitzen, lassen sich auf ihren Aufenthalt bei der PKK zurückführen. Auf diese Weise haben sie sich ihr Wissen und ihre Fähigkeiten erarbeitet. Kollektive Gedanken und Gefühle enden nicht mit einem Ortswechsel.

Aber wir sollten verstehen, dass Millionen von Kurden, Arabern und Suryoye in Rojava sowie Nord- und Ostsyrien leben und über ihre eigene Selbstorganisation verfügen. Eine organische Verbindung zu uns besteht nicht. Sie treffen alle ihre Entscheidungen selbst. Wenn Sie aber argumentieren, dass sie politisch und ideologisch von unserer Bewegung beeinflusst wurden, kann ich Ihnen sagen, dass dies sicherlich in gewissem Maße richtig ist. Rêber Apo und die PKK haben bei der Bevölkerung von Rojava Eindruck hinterlassen. Schon vor der Revolution hatten sich Tausende junge Menschen den HPG und der YJA-Star angeschlossen. Wiederum Tausende von ihnen sind im Widerstand gegen den türkischen Staat gefallen. Zusammengefasst gibt es Effekte in Form von Ideen und Gefühlen. Das hat sicher auch politische Implikationen.

Im Übrigen reden wir hier nicht von verschiedenen Völkern und Ländern. Rojava ist ein Teil von Kurdistan. Die PKK hat in allen vier Teilen Kurdistans ihre Spuren hinterlassen. Was Rojava betrifft, so beschränken sich unsere Beziehungen auf emotionale und ideelle Bindungen. Politisch und administrativ hat Rojava eigene Entscheidungsmechanismen, die wir gelegentlich auch mal kritisieren. Es sollte als unser natürlichstes Recht angesehen werden, eine kurdische Bewegung zu kritisieren und gleichzeitig zu unterstützen.

Sie sprechen sich gegen Zentralismus aus. Gleichzeitig befindet sich die Autorität bei der PKK in den Händen von einigen wenigen alten Führungskräften, die weit von ihnen entfernt liegende Gebiete kontrollieren. Ist das kein Widerspruch?

Unsere politische Linie zielt auf die Lösung der kurdischen Frage durch eine Demokratisierung der Nationalstaaten und der damit einhergehenden Schaffung einer Autonomie der Kurden innerhalb der bestehenden Grenzen. Fakt ist, dass autoritäre und repressive Mentalitäten stets zu einem strikt zentralistisch strukturierten Staat tendieren. Wir kämpfen jedoch für die Etablierung eines Gesellschaftsmodells, das auf demokratischen und konföderalen Grundsätzen beruht. Kann ein politisches System wie dieses, das sich an solch einem Gesellschaftsmodell orientiert, autoritär sein?

Unsere Ideen und unser politisches System sehen ein Modell vor, in dem jede Region die Initiative in ihren eigenen Händen hält. Das heißt, jede konföderale Einheit genießt ihr eigenes Recht auf Freiheit und Entscheidungsfindung. Innerhalb dieses Systems haben die Jugend und die Frauen das Recht auf Selbstorganisation, autonome Entscheidungsfindung und Aufgabenteilung. Die militärischen Kräfte organisieren sich ebenfalls frei und autonom. Es ist schwierig, eine so breite Bewegung wie die unsere durch zentralistische Entscheidungsmechanismen zu lenken.

Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, tägliche Verwaltungsaufgaben von geografisch weit entfernten Gebieten zu verrichten. Im Gegenteil gibt es sogar einige Probleme, die durch Initiativentscheidungen in den Regionen und Organisationen verursacht werden. Wir betrachten diese Probleme als Ergebnis der charakteristischen Eigenschaft unseres Systems, die unsere Bewegung im Allgemeinen stärkt. Es ist möglich, dass ein demokratisches und konföderales System solche Arten von Problemen verursacht. In dieser Hinsicht spiegelt die Annahme, unser politisches System liege zentralisiert in den Händen einiger weniger älterer Personen, nicht die ideologische und theoretische Realität unserer Bewegung wider. In einer Organisation, deren elementare Schwerpunkte die Emanzipation der Frau, ihre freie Organisierung und ihre Willenskraft sind, kann es keine autoritäre Herrschaft geben. Es ist auch verkehrt anzunehmen, unser Exekutivorgan würde sich ausschließlich aus älteren Menschen zusammensetzen. Denn bei der Mehrheit der Vorstandsmitglieder handelt es sich um Personen mittleren und jüngeren Alters. Wiederum die Hälfte davon besteht aus Frauen, wie es unsere Organisationssatzung vorschreibt. Im internationalen Vergleich liegt das Durchschnittsalter der Personen unseres Führungsgremiums also deutlich niedriger als bei anderen politischen Verwaltungen.

Die PKK ist die Bewegung, die die meisten Kongresse und Konferenzen innerhalb eines Jahres abhält. Wir sollten das an dieser Stelle betonen. Alle Entscheidungen werden in Sitzungen mit breiter Beteiligung getroffen. Das Führungsgremium setzt diese Beschlüsse nur in die Praxis um.

Ihre Organisation ist in den Bergen isoliert und verfügt nur über alte russische Waffen. Die Türkei hingegen ist eines der führenden Länder in der Produktion von Drohnen. Wie wollen Sie militärisch gegen den türkischen Staat gewinnen? Geht es bei Ihrer momentanen Strategie um eine militärische Eskalation oder um die Suche nach Frieden?

Es ist nicht richtig, dass wir in den Bergen isoliert sind. Sicherlich haben wir weite Gebirgslandschaften, denn Kurdistan ist in gewisser Weise als das Land der Berge bekannt. Seit vierzig Jahren führen wir in diesen Bergen einen Guerillakampf. Das zeigt doch, in welchem Maße die Guerilla und die Berge miteinander verbunden sind. Aber unsere Bewegung beschränkt sich nicht nur auf die Berge. Wenn wir uns mit anderen demokratischen und nationalen Bewegungen vergleichen, so stechen wir bei der gesellschaftlichen Unterstützung am meisten hervor. Wir haben eine sehr breite soziale Basis in allen vier Teilen Kurdistans und sind nicht wie behauptet in den Bergen eingeschlossen. Das faschistische Regime in der Türkei mag den Bereich des sozialen und politischen Aktivismus in den letzten Jahren bis zu einem gewissen Grad unterdrückt und zurückgedrängt haben, aber das kurdische Volk fühlt sich unserer Freiheitsbewegung verbunden und zeigt seine Unterstützung bei jeder möglichen Gelegenheit, und das seit Jahrzehnten. Jede Person in Kurdistan erkennt die Realität an, dass unsere Freiheitsbewegung die breiteste Unterstützung unter allen Kurden genießt.

Was unsere Alternativen bezüglich Waffen betrifft, so besteht kein Zweifel daran, dass sie nicht so divers und leistungsfähig sind wie das militärische Inventar der türkischen Armee. Die Türkei kann auf alle Waffensysteme der NATO zurückgreifen. Die USA und einige europäische Länder versorgen die Türkei mit allen Arten von Unterstützung. Wir beziehen unsere Waffen und Munition, die zum Teil aus US-Produktion stammen, von kleineren informellen Märkten. Dennoch hat unser Widerstand den türkischen Staat immer wieder an den Rand des Zusammenbruchs gebracht. Die USA und einige EU-Länder sind ihm zu Hilfe geeilt und haben seinen Fall verhindert. In keinem Guerillakrieg gegen eine konventionelle Armee liegt die waffentechnische Überlegenheit bei der Guerilla. Oder anders ausgedrückt: Nirgendwo tragen Guerillabewegungen ihre Siege durch die Überlegenheit von Kriegsmitteln aus. In der Geschichte waren stets das Vorhandensein von Legitimität, gedankliche Überlegenheit und moralische Stärke die entscheidenden Faktoren für den Erfolg des Guerillakampfes gegen die Armeen repressiver Regime. Die gleichen Faktoren liegen unserer Überlegenheit gegenüber dem türkischen Staat zugrunde.

Der türkische Staat hat sich in den letzten Jahren eine Reihe technologisch hochentwickelter Waffen und Drohnen angeeignet. Er nutzt alle zur Verfügung stehenden Ressourcen, um solche Waffen zu kaufen. Diese groß angelegte Waffenbeschaffung zu hohen Kosten folgte auf die vielen Rückschläge, die der türkische Staat durch unseren Guerillakampf erleiden musste. Natürlich bereiten uns diese Hightech-Waffen gewisse Probleme. Demgegenüber entwickeln wir bei der Guerilla eine Organisierung und einen Kampf, der die Wirkung dieser hochtechnologischen Waffen kompensieren kann. Das ist ein entscheidendes Merkmal im Guerillakampf. Wir entwickeln unsere eigenen Maßnahmen gegen Drohnen und Kriegskonzepte. Die Niederlage der türkischen Armee im Gebiet Gare und ihr Rückzug aus diesem Guerillagebiet nach ihrer groß angelegten Militäroperation am 10. Februar ist das Ergebnis der neuen Taktikten und Maßnahmen der Guerilla.

Wir wollen den türkischen Staat durch eine Vereinigung des Guerillakampfes, des sozialen Widerstands und Aktionen in den Städten, also eines vielseitigen Kampfes verändern. Wir sind uns sicher, durch diesen mehrdimensionalen Kampf die seit bald einem Jahrhundert andauernde antidemokratische Verleugnungs- und Vernichtungspolitik des türkischen Staates gegenüber den Kurden zu beseitigen. Die Guerilla ist nur eine Dimension dieses multiperspektivischen Kampfes.

Was die Lösung der kurdischen Frage betrifft, haben wir die vernünftigsten Vorschläge unterbreitet, die weltweit beispiellos sind in der Geschichte ähnlicher Widerstände. Unsere Forderungen wären akzeptiert worden, wenn sie irgendwo anders, aber nicht in der Türkei gestellt worden wären. Der türkische Staat akzeptiert in keiner Weise eine politische Lösung der kurdischen Frage. Das Hauptziel dieses Staates ist es, an den Kurden einen Völkermord zu verüben. Mittels der Politik einer Türkisierung aller Kurden soll Kurdistan zu einem Aktionsfeld des türkischen Nationalismus geformt werden. Die gegenwärtige Sackgasse resultiert nicht aus überzogenen Forderungen von unserer Seite. Für ein Volk wie wir es sind haben wir vernünftige Vorschläge für eine Lösung unterbreitet. Faktisch geht es um die Verleugnung der nationalen Identität eines Volkes und seiner grundlegendsten Rechte. Wir suchen nicht nach militärischen Lösungen, sondern nach demokratischen politischen Lösungen. Wir haben alle Wege eingeschlagen, um dieses Ziel zu erreichen, der türkische Staat jedoch ist keinen einzigen Schritt auf uns zugegangen. Das, was der türkische Staat uns auferlegt, ist unsere nationale Selbstverleugnung und die Aufgabe unserer politischen Rechte. Er lehnt potentiell alles ab, was die nationale Identität und Existenz der Kurden aufrechterhalten kann.

Natürlich würden wir eine friedliche und demokratische Lösung bevorzugen. Doch solange die derzeitige Mentalität des Staates und die faschistische AKP/MHP-Regierung bestehen, wird dies nicht möglich sein. Der Weg zu einer demokratischen Lösung und zum Frieden wird sich erst öffnen, wenn diese faschistische Herrschaft zu Fall gebracht wird.