Demirtaş: Niemand soll sich alleine fühlen

In Ankara ist der Kobanê-Prozess fortgesetzt worden. Der HDP-Politiker Selahattin Demirtaş wies vor Gericht auf den Zusammenhang zwischen der miserablen Lage in der Türkei und dem Schauprozess hin.

In Ankara ist der sogenannte Kobanê-Prozess fortgesetzt worden. An der heutigen Verhandlung im Vollzugskomplex Sincan nahm unter anderem der ehemalige HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtaş über eine Videoschaltung aus dem Hochsicherheitsgefängnis Edirne teil. Demirtaş ist einer von 108 Angeklagten, denen die Proteste zur Zeit des IS-Angriffs auf Kobanê im Jahr 2014 zur Last gelegt werden.

In seiner Erklärung vor Gericht ging Demirtaş, der selbst Jurist ist und vor seiner politischen Laufbahn als Rechtsanwalt arbeitete, vor allem auf die Formfehler und die offensichtliche Parteilichkeit der Richter ein, die den Schauprozess so schnell wie möglich abschließen wollen. „Solange wir im Gefängnis sind, sind wir Geiseln“, stellte der kurdische Politiker fest. Zwischen der miserablen Lage in der Türkei und dem Prozess, der als Auftakt des HDP-Verbots gelte, gebe es einen direkten Zusammenhang:

„Der Anstieg und Fall des Dollars steht im Zusammenhang mit diesem Prozess. Auch die Armut steht damit im Zusammenhang. Wenn wir nicht ins Gefängnis gesteckt worden wäre, wäre diese Regierung nicht alleine an die Macht gekommen. Jetzt will sie uns drinnen festhalten, weil sie nochmal gewinnen will. Die Situation ist schlimm. Mit diesem Prozess soll vertuscht werden, dass die ökonomischen Quellen dieses Landes verschleudert werden. Was hier stattfindet, geht daher 84 Millionen Menschen etwas an. Die Türkei hat seit gestern Nacht beschlossen, den Dollar zur Währungseinheit zu machen. Die angeblich lokale und nationale Regierung hat den Dollar zur inoffiziellen Währung erklärt. Sie tut alles, um die Wahlen zu gewinnen. Der wirtschaftliche Zerfall, die Morde in den Gefängnissen, die Femizide und die Isolation von Abdullah Öcalan auf Imrali, zwischen allem gibt es einen Zusammenhang.“

Kein Gefangener soll sich allein fühlen“

Demirtaş sprach auch die Situation erkrankter Gefangener und die gehäuften Todesfälle in türkischen Haftanstalten an. Dabei handele es sich um Mord, sagte Demirtaş und appellierte an alle politischen Gefangenen, ihre Moral zu bewahren und auf ihre Gesundheit zu achten: „Niemand von unseren gefangenen Freundinnen und Freunde soll sich alleine fühlen. Wir stehen weiter an der Seite der Gefangenen und ihrer Familien. Unser Herz schlägt für alle, von den Ärmsten bis zu den Isolierten.“ Gefangene in den Selbstmord zu treiben oder ihnen eine medizinische Behandlung zu verweigern, sei ein Verbrechen an der Menschheit. Die einzige Lösung sei der politische Kampf für Demokratie und Freiheit. „Mit Beharrlichkeit und Hoffnung werden wir dabei Erfolg haben“, so Selahattin Demirtaş.

Der Prozess wird am 23. Dezember fortgesetzt.

Hintergrund: Angeklagt wegen Kobanê-Solidarität

Im Kobanê-Verfahren sind insgesamt 108 Persönlichkeiten aus Politik, Zivilgesellschaft und der kurdischen Befreiungsbewegung angeklagt, 21 von ihnen befinden sich in Untersuchungshaft. Ihnen drohen auf Grundlage von konstruierten Vorwürfen schwere Freiheitsstrafen, in dutzenden Fällen erschwert lebenslänglich und damit Haft bis in den Tod. Die 3.530 Seiten dicke Anklageschrift bezieht sich auf die Geschehnisse, die sich im Oktober 2014 rund um die kurdische Stadt Kobanê im Norden von Syrien ereigneten. Die HDP hatte in einem Twitter-Beitrag, den der Straßburger EGMR als politische Rede wertet, zu Solidarität mit dem vom „Islamischen Staat” (IS) belagerten Kobanê und Protesten gegen die türkische Regierung aufgerufen, da diese ihre Unterstützung für den IS nicht beendete. Im Rahmen dieser Proteste kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den Demonstrierenden, der Polizei, dem Militär und IS-nahen Organisationen, die nach Angaben der HDP zu 43 Toten führten. Die Staatsanwaltschaft spricht von 37 Toten. Diese Toten, bei denen es sich überwiegend um HDP-Mitglieder handelte, werden im Kobanê-Prozess dem damaligen Vorstand und der Partei als Ganzes zur Last gelegt.