Kobanê-Prozess: Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren

Im Kobanê-Prozess eilt das Gericht von einem Eklat zum nächsten, um das Verfahren so schnell wie möglich zu Ende zu bringen. Die außenpolitische HDP-Kommission weist auf eine unfaire Behandlung der Angeklagten und gravierende Rechtsverstöße hin.

Unter starken Einschränkungen für die Öffentlichkeit findet seit dem 26. April im Gerichtssaal des Gefängnisses Sincan bei Ankara der Kobanê-Prozess statt. Unter den insgesamt 108 Angeklagten befindet sich der gesamte HDP-Vorstand von 2014, auch die damaligen Ko-Vorsitzenden Figen Yüksekdağ und Selahattin Demirtaş. Ihnen drohen auf Grundlage von konstruierten Vorwürfen schwere Freiheitsstrafen, in dutzenden Fällen erschwert lebenslänglich und damit Haft bis in den Tod. Die 3.530 Seiten dicke Anklageschrift bezieht sich auf die Geschehnisse, die sich im Oktober 2014 rund um die kurdische Stadt Kobanê im Norden von Syrien ereigneten. Die HDP hatte in einem Twitter-Beitrag zu Solidarität mit dem vom „Islamischen Staat” (IS) belagerten Kobanê und Protesten gegen die türkische Regierung aufgerufen, da diese ihre Unterstützung für den IS nicht beendete. Im Rahmen dieser Proteste kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den Demonstrierenden, der Polizei, dem Militär und IS-nahen Organisationen, die nach Angaben der HDP zu 43 Toten führten. Die Staatsanwaltschaft spricht von 37 Toten. Diese Toten, bei denen es sich überwiegend um HDP-Mitglieder handelte, werden im Kobanê-Prozess dem damaligen Vorstand und der Partei als Ganzes zur Last gelegt.

Schauprozess einer politisch instrumentalisierten Justiz

Die HDP bezeichnet das Verfahren als Schauprozess einer politisch instrumentalisierten Justiz, der sich einreihe in das systematische Vorgehen gegen die Opposition. Die vehemente Einmischung der Führung in Ankara macht immer wieder von neuem deutlich, dass die Justiz als Vollstreckungsorgan von Recep Tayyip Erdoğan handelt und damit von einem fairen, unabhängigen Gerichtsprozess nicht die Rede sein kann. Darauf machen Feleknas Uca und Hişyar Özsoy als Ko-Sprecher:innen der außenpolitischen Kommission der HDP nun nochmals aufmerksam. Der gesamte Prozess sei geprägt von gravierenden Rechtsverstößen und der Willkür der Regierung ausgesetzt, heißt es in einem Bericht zur sechsten Hauptverhandlung. Uca und Özsoy zeigen sich darin mehr als alarmiert: „Auf ein faires Verfahren kann in keinster Weise vertraut werden, denn dieses Recht wurde im Fall der Angeklagten im Kobanê-Prozess faktisch ausgehebelt.”

Vorsitzender Richter ohne formale Begründung abgezogen

Die erste Anhörung der letzten Hauptverhandlung fand am 8. November 2021 statt. Die Sitzungstage standen unter dem Eindruck von Protesten der Angeklagten und ihrer Verteidigung. Sie warfen dem Kollegialgericht vor, von einem Eklat zum nächsten zu eilen, um den Prozess so schnell wie möglich zu Ende zu bringen. Laut Feleknas Uca und Hişyar Özsoy hätten die Sitzungen aber gar nicht stattfinden dürfen, da am 4. November – dem Jahrestag der Festnahmen von Yüksekdağ, Demirtaş und Co – der vorsitzende Richter ohne formale Begründung auf Entscheidung des Rats der Richter und Staatsanwälte (HSK) vom Prozess abgezogen wurde. „In Anbetracht des Grundsatzes der Amtszeit von Richtern ist die Entlassung dieses Richters aus dem Verfahren als Abschaffung der verfassungsmäßig garantieren Rechte und auch der vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) vorgesehenen Garantien zu betrachten. Eine solche Entscheidung und Einmischung in das Gericht stellt eine klare politische Intervention gegen die Justiz dar und zerstört deren Unabhängigkeit und Unparteilichkeit. Sie ist rechtswidrig und hebt die allgemeine Garantie eines fairen Verfahrens auf.”

Verhandlungspausen viel zu kurz

Seit Beginn des Kobanê-Prozesses dauerte jede Hauptverhandlungssitzung in der Regel zwei Wochen, wobei jeder Prozesstag um 10:00 Uhr begann und bis 17:00 Uhr dauerte. Am 9. November beschloss das Gericht, die Pausen zwischen den Hauptverhandlungen auf eine Woche zu verkürzen. „Diese Verhandlungsdichte stellt eine Misshandlung sowohl für die Angeklagten als auch für die anwesenden Verteidiger:innen dar”, halten Uca und Özsoy in ihrem Bericht fest. Denn normalerweise sollte zwischen den einzelnen Anhörungen eine Pause von mindestens zwei bis drei Monaten liegen. Diese Forderung hatte die Verteidigung bei der ersten Anhörung am 8. November in Form eines Antrags bei Gericht gestellt. Zudem wurde eine Beschwerde beim HSK angekündigt, sollte dem Ersuchen nicht entsprochen werden. Die Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte signalisierten darüber hinaus, nicht an den Anhörungen teilzunehmen, solange es keine Reaktion auf ihre Beschwerde gibt. Der HSK lehnte den Antrag ab.

Ablehnung aller Anträge und Forderungen von Angeklagten und Verteidigung

„Die Ablehnung der Forderung der Verteidigung ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Behörden darauf bestehen, den Fall so schnell wie möglich zu beenden. Dieses Beharren ist politisch und geht insbesondere auf Devlet Bahçeli, den Vorsitzenden der MHP und Koalitionspartner der regierenden AKP, zurück”, heißt es im Bericht der außenpolitischen Kommission. Bahçeli hatte am 27. April erklärt, das Urteil im Kobanê-Prozess werde den 108 Angeklagten „harte Zeiten” bescheren und solle daher binnen kürzester Zeit getroffen werden. Die HDP müsse „eingesperrt” bleiben, am besten auf Weisung von Recht und Justiz.

Gericht setzt Verhandlung ohne Beteiligte fort

Am 11. November reichte die Verteidigung beim HSK eine Beschwerde gegen alle Mitglieder des Kollegialgerichts im Kobanê-Prozess wegen Fehlverhaltens ein. Uca und Özsoy halten fest: „Doch noch am selben Tag wies das Gericht alle Forderungen der Anwältinnen und Anwälte sowie der Angeklagten zurück. Diese hatten sich geweigert, der Verhandlung beizuwohnen, um gegen die Eile des Gerichts zu protestieren. Die beteiligten Richter setzten den Prozess jedoch in ihrer Abwesenheit fort. Es ist völlig unzulässig, dass das Gericht die Verhandlung ohne die Angeklagten und ihre Verteidigung fortsetzt und Entscheidungen trifft. In der Eile, den Fall so schnell wie möglich abzuschließen, beschloss das Kollegialgericht ohne jegliche Rechtsgrundlage, die Verhandlung auf den 29. November zu verschieben.”

Rechtswidrigkeiten im Schatten des EGMR-Urteils zu Demirtaş

All diese rechtswidrigen Praktiken haben sich im Schatten des EGMR-Urteils zu Selahattin Demirtaş ereignet, in dem die Vorwürfe gegen die HDP im Zusammenhang mit den Kobanê-Protesten bereits geprüft wurden, stellen Feleknas Uca und Hişyar Özsöy abschließend fest. Die Generalstaatsanwaltschaft Ankara legt den Protestaufruf der HDP-Zentrale als Aufruf zu Gewalt aus. Laut Auffassung der Großen Kammer des EGMR liegen für diese Annahme aber keine Beweise vor. Der inkriminierte Tweet habe sich „innerhalb der Grenzen der politischen Rede” bewegt und könne nicht als Aufruf zur Gewalt ausgelegt werden.

Verbotsverfahren: Kobanê gilt als Schlüsselprozess

Das Kobanê-Verfahren gilt als Schlüsselprozess, da er zur Zerschlagung der politischen Vertretung der Kurdinnen und Kurden in der Türkei führen könnte. Die Anklagepunkte spielen auch im Verbotsverfahren gegen die HDP eine maßgebliche Rolle. Den 108 Angeklagten werden insgesamt 29 Straftatbestände vorgeworfen, darunter versuchten Mord, Totschlag, Plünderungen und Sachbeschädigungen. Im Vordergrund steht der Vorwurf, für die Todesfälle bei den Protesten vom 6. bis 8. Oktober 2014 verantwortlich zu sein. Zudem hätten sie mit Aussagen in Interviews die Integrität des Staats untergraben und seien an terroristischen Handlungen beteiligt gewesen. Für 38 Beschuldigte fordert die Anklage lebenslange Haft unter erschwerten Bedingungen. Gegen Selahattin Demirtaş liegt ein gefordertes Strafmaß von mehr als 15.000 utopischen Jahren Gefängnis vor.