Die inhaftierten Angeklagten im „Kobanê-Prozess“ bleiben in Untersuchungshaft. Die 22. Große Strafkammer zu Ankara lehnte am Mittwoch sämtliche Anträge der Verteidigung auf Haftentlassung gegen Meldeauflagen ab. Zur Begründung teilte das Gericht mit, dass das erwartete Strafmaß mit Blick auf die vorgeworfene Schwere der Schuld „sehr hoch“ sei und daher Fluchtgefahr bestünde. Meldeauflagen oder ein Ausreiseverbot seien angesichts der Beweislage als „Präventivmaßnahme“ nicht ausreichend. Im Fall von Selahattin Demirtaş ließ die Kammer verlauten, das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu dessen Freilassung habe keine „Bindungswirkung“. Ausschlaggebend für die Entscheidung, ihn im Gefängnis zu halten, seien „unmittelbar tatbezogene Indizien und Beweise“, die sich aus allen zusammengelegten Verfahren gegen den 48-Jährigen ergeben würden.
Seit Anfang vergangener Woche fanden die Sitzungen der fünften Hauptverhandlung im sogenannten Kobanê-Prozess im Gerichtssaal auf dem Gelände des Gefängniskomplexes Sincan bereits statt. Zum Ende der letzten Sitzung wies das Gericht auch einen Antrag auf Offenlegung von Beweismitteln zurück. Konkret ging es um Zugang zu Informationen, auf welche Weise die „geheimen Zeugen” der Anklage ermittelt worden seien. Die zuständigen Richter verweigerten die Auskunft mit der Begründung, dass diese Informationen für die Verteidigung nicht relevant seien.
Im Fall von Sebahat Tuncel und Sibel Akdeniz wies das Gericht die Leitung des Hochsicherheitsgefängnisses Kandıra-Kocaeli an, den Politikerinnen die Nutzung eines Computers für die Vorbereitung ihrer Verteidigung zu gestatten. Um die Haftfähigkeit der schwer erkrankten Aysel Tuğluk festzustellen, wurde eine rechtsmedizinische Untersuchung angeordnet. Beim Ministerium für Justiz soll zudem die Information eingeholt werden, ob die in Rojava beziehungsweise Nord- und Ostsyrien aktiven Volksverteidigungseinheiten (ku. Yekinêyên Parastina Gel) in der Türkei als „Terrororganisation“ gelistet sind. Die Prozessfarce wird am 8. November fortgesetzt.
Hintergrund: Angeklagt wegen Kobanê-Solidarität
Im Kobanê-Verfahren sind insgesamt 108 Persönlichkeiten aus Politik, Zivilgesellschaft und der kurdischen Befreiungsbewegung angeklagt, die im Zusammenhang mit den Protesten während des IS-Angriffs auf Kobanê im Oktober 2014 terroristischer Straftaten und des Mordes in dutzenden Fällen beschuldigt werden. Allein für Selahattin Demirtaş fordert die Generalstaatsanwaltschaft Ankara bis zu 15.000 utopische Jahre Haft.
Auslöser des Kobanê-Verfahrens ist ein Beitrag des HDP-Exekutivrats im Kurznachrichtendienst Twitter, der während einer Dringlichkeitssitzung verfasst worden war und neben Solidarität mit der von der Terrormiliz „Islamischer Staat” (IS) eingekesselten Stadt in Westkurdistan auch zu einem unbefristeten Protest gegen die türkische Regierung aufrief, da diese ihre Unterstützung für den IS nicht beendete: „Dringender Aufruf an unsere Völker […]! In Kobanê ist die Lage äußerst kritisch. Wir rufen unsere Völker dazu auf, auf die Straße zu gehen und diejenigen zu unterstützen, die bereits auf der Straße sind, um gegen die Angriffe des IS und gegen das Embargo der AKP-Regierung zu protestieren.”
Dutzende Tote, hunderte Verletzte
Im Zuge dessen kam es in vielen Städten zu regelrechten Straßenschlachten zwischen Sicherheitskräften sowie paramilitärischen Verbänden wie Dorfschützern und Anhängern der radikalislamistischen türkisch-kurdischen Hisbollah (Hizbullah) und den Demonstrierenden. Die Zahl der dabei getöteten Menschen, bei denen es sich größtenteils um Teilnehmende des Aufstands handelte, schwankt zwischen 46 (IHD) und 53. Die Regierung spricht lediglich von 37 Toten. Viele von ihnen wurden durch Schüsse der Sicherheitskräfte getötet. Laut einem Bericht des Menschenrechtsvereins IHD wurden 682 Menschen bei den Protesten verletzt. Mindestens 323 Personen wurden verhaftet. Im Verlauf des Aufstands kam es zudem zu Brandanschlägen auf Geschäfte sowie öffentliche Einrichtungen. Die Regierung macht die HDP für die Vorfälle verantwortlich.
EGMR wertet Aufruf als politische Rede
Die Generalstaatsanwaltschaft Ankara legt den Twitter-Beitrag der HDP-Zentrale als Aufruf zu Gewalt aus. Laut Auffassung der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) liegen für diese Annahme aber keine Beweise vor. Vergangenen Dezember stellte das Straßburger Gericht im Fall Selahattin Demirtaş vs. Türkei fest, dass sich der Eintrag „innerhalb der Grenzen der politischen Rede” bewegte. Insofern könne der Tweet nicht als Aufruf zur Gewalt ausgelegt werden, urteilte die Kammer und forderte die sofortige Freilassung des ehemaligen Ko-Vorsitzenden der HDP. Die Türkei ignoriert das Urteil.
ANF-Artikel als Beweismittel der Anklage
Als Beweismittel werden in der 3530 Seiten langen Anklageschrift unter anderem ANF-Artikel über die politischen Aktivitäten der Beschuldigten sowie ihre Äußerungen und Interviews herangezogen. Insgesamt sind 413 Seiten unserer Berichterstattung gewidmet worden. Weitere 62 Seiten behandeln die „Strukturen von PKK/KCK“, auf deren Anweisung Selahattin Demirtaş nach Auffassung des Oberstaatsanwalts mehrere Erklärungen abgegeben haben soll, unter anderem nach einem Besuch in Kobanê am 30. September 2014. Bei den derzeit inhaftierten Angeklagten handelt es sich neben Demirtaş um Figen Yüksekdağ, Ayla Akat Ata, Günay Kubilay, Alp Altınörs, Nazmi Gür, Ali Ürküt, Bülent Barmaksız, İsmail Şengül, Mesut Bağcık, Bircan Yorulmaz, Dilek Yağlı, Pervin Oduncu, Ayşe Yağcı, Zeynep Ölbeci, Aysel Tuğluk, Sebahat Tuncel, Gültan Kışanak, Nezir Çakan, Meryem Adıbelli und Aynur Aşan.