In Ankara hat am Montag die fünfte Hauptverhandlung im „Kobanê-Prozess“ begonnen. Weil der zuständige Richter krankheitsbedingt fehlte, lehnten es die persönlich anwesenden sowie per Videokonferenz zugeschalteten Angeklagten ab, ihre Verteidigungsreden gegenüber dem zur Vertretung berufenen Richter zu halten.
Angeklagt im sogenannten Kobanê-Verfahren von Ankara, das im Gerichtsgebäude auf dem Gefängniscampus Sincan verhandelt wird, sind 108 Persönlichkeiten aus Politik, Zivilgesellschaft und der kurdischen Befreiungsbewegung, die im Zusammenhang mit den Protesten während des IS-Angriffs auf Kobanê im Oktober 2014 terroristischer Straftaten und des Mordes in dutzenden Fällen beschuldigt werden. Allein für den ehemaligen HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş fordert die Generalstaatsanwaltschaft bis zu 15.000 utopische Jahre Haft.
Auslöser des Kobanê-Verfahrens ist ein Beitrag des HDP-Exekutivrats im Kurznachrichtendienst Twitter, der während einer Dringlichkeitssitzung verfasst worden war und neben Solidarität mit der von der Terrormiliz „Islamischer Staat” (IS) eingekesselten Stadt in Westkurdistan auch zu einem unbefristeten Protest gegen die türkische Regierung aufrief, da diese ihre Unterstützung für den IS nicht beendete: „Dringender Aufruf an unsere Völker […]! In Kobanê ist die Lage äußerst kritisch. Wir rufen unsere Völker dazu auf, auf die Straße zu gehen und diejenigen zu unterstützen, die bereits auf der Straße sind, um gegen die Angriffe des IS und gegen das Embargo der AKP-Regierung zu protestieren.”
Mysteriöse Zeugen
Der heutige Prozesstag ging relativ schnell zu Ende. Die Verhandlung begann mit dem Hinweis, dass die im Rahmen der Ermittlungen in dem Verfahren zur Fahndung ausgeschriebene Aktivistin Aynur Aşan inzwischen inhaftiert wurde und sich somit nach derzeitigem Stand insgesamt 21 der Angeklagten im Gefängnis befinden. Daran anschließend kamen mehrere Anwältinnen und Anwälte zu Wort, darunter Kenan Maçoğlu. Der Jurist forderte das Gericht auf offenzulegen, auf welche Weise die „geheimen Zeugen“ Ulaş, Mahir und Kerem Gökalp, auf deren Aussagen die Anklage größtenteils beruht, von der Staatsanwaltschaft ermittelt worden sind. Trotz diverser Anträge sei dahingehend kein Schritt zur Aufklärung erfolgt, kritisierte Maçoğlu. „Die Vernehmungsprotokolle sind zwar in der Akte, aber auf welche Weise sie dorthin gelangt sind, das weiß niemand. Wir fordern die Staatsanwaltschaft auf, dieses Mysterium zu lösen.“ Im Übrigen habe sich der „Zeuge Gökalp“ in keinster Weise zu den Kobanê-Protesten geäußert. Im Verbotsverfahren gegen die HDP taucht der Mann, der vom türkischen Reuegesetz Gebrauch gemacht haben soll und aktuell im Gefängnis sitzt, ebenfalls als Zeuge auf. „Wir werden nicht müde, es immer wieder zu sagen: dieser Prozess ist eine Farce, ein Schauprozess, ein politischer Putsch“, so Maçoğlu.
Verhandlung wird am Dienstag fortgesetzt
Beobachtet wurde die Verhandlung von zahlreichen Politikerinnen und Politikerin, darunter den HDP-Abgeordneten Ümit Dede, Mahmut Toğrul, Züleyha Gülüm, Serpil Kemalbay, Habip Eksik, Hişyar Özsoy, Kemal Pekgöz, İmam Taşçıer, Sait Dede, Gülistan Kılıç Koçyiğit, Tülay Hatimoğulları und Ali Kenanoğlu. Auch die Mitglieder der HDP-Rechtskommission sowie Vorstandsmitglieder verschiedener Kreise und Provinzen saßen im Saal. Die Verhandlung wird am Dienstag fortgesetzt.