Am Montag findet die fünfte Hauptverhandlung im „Kobanê-Prozess“ in Ankara statt. Im Vorfeld der Verhandlung haben die HDP-Abgeordnete Züleyha Gülüm und drei Verteidiger:innen der 108 Angeklagten erneut auf den politischen Hintergrund des Verfahrens hingewiesen und zur Solidarität aufgerufen.
Unter den Angeklagten befindet sich der gesamte damalige Vorstand der Demokratischen Partei der Völker (HDP), so auch die ehemaligen Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ. Zwanzig der Angeklagten sind im Gefängnis. Figen Yüksekdağs Rechtsanwältin Ezgi Güngördü erklärte am Freitag auf der Pressekonferenz in Istanbul, dass das Verfahren seit Beginn an von Rechtswidrigkeiten und Formfehlern geprägt ist: „Es ist ein politisches Verfahren, ein Prozess gegen die Opposition. Daher rufen wir alle demokratischen Massenorganisationen zur solidarischen Prozessbeobachtung auf.“
„Die HDP soll von der politischen Bühne entfernt werden“
Ramazan Demir, der zum Verteidigerteam von Selahattin Demirtaş gehört, bezeichnete das Verfahren als Finale einer Prozedur, die vor fünf Jahren mit der Festnahme der HDP-Abgeordneten am 4. November 2016 begonnen hat. An diesem Tag sei deutlich geworden, wie die Regierung und Präsident Erdogan in die Justiz eingriffen: „Das hat auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Urteil bestätigt. Die Justiz, die Regierung, der Staat widersetzen sich dem EGMR-Urteil. Wir haben von Anfang an erklärt, dass dieser Prozess eine Totgeburt ist. Der EGMR hat erstmalig in seiner Geschichte ein Urteil in einer Sache gesprochen, die ihm noch gar nicht vorgelegt worden war. Das hat er getan, um der Türkei zu signalisieren, dass bekannt ist, was sie zu unternehmen versucht. Als der zweite Haftbefehl gegen Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ ausgesprochen wurde, haben wir dem EGMR die Beweismittel vorgelegt, soweit sie uns selbst vorlagen. Zu dieser Zeit war das Urteil der Großen Kammer zur Rechtswidrigkeit der Inhaftierung von Demirtaş noch nicht gesprochen worden. Die Große Kammer hat die Beweismittel der Anklage im Kobanê-Verfahren untersucht und die Absichten der Türkei öffentlich dargelegt. Sie hat festgestellt, dass der zweite Haftbefehl die Fortsetzung des ersten ist, und die Freilassung von Selahattin Demirtaş gefordert. Das Urteil war sehr eindeutig. Danach sind erneut dieselben Beweismittel vorgelegt worden. Es findet ein juristisches Planspiel statt. Deshalb wird der Kobanê-Prozess zu Recht als Komplottverfahren bezeichnet. Wir haben es mit Richtern und einer Regierung zu tun, die das europäische Menschenrechtsabkommen und die Verfassung missachten. Das sehen auch der EGMR und das Ministerkomitee des Europarats. Das Komitee hat auf seiner Sitzung im September seine Verlautbarungen verschärft und die Einstellung des Verfahrens gefordert. Es gibt weltweit keine Zweifel daran, dass sich dieser Prozess gegen die legale kurdische Politik und die HDP richtet und die HDP damit von der politischen Bühne geschafft werden soll.“
„Dem Gericht wird befohlen, den Prozess schnell zu beenden“
Züleyha Gülüm, die selbst Juristin und Mitglied der rechtspolitischen Kommission der HDP ist, ergänzte die Ausführungen der Anwält:innen mit den Worten: „Wir haben von Anfang an gesagt, dass dieses Verfahren auf Anordnung der Regierung eröffnet worden ist und das Justizsystem diesen Anordnungen folgt. Dass es sich um einen Komplott handelt, ist inzwischen durch diverse Dokumente belegt worden. Dem Gericht ist auferlegt worden, dass Verfahren so schnell wie möglich zum Abschluss zu bringen. Wie bei der Einführung der Zwangsverwaltung in den Rathäusern wird auch das Ergebnis dieses Prozesses nicht auf die HDP beschränkt bleiben.“
Was passiert, wenn das EGMR-Urteil nicht umgesetzt wird?
Auf die Frage eines Journalisten, was die Verteidigung unternehmen werde, wenn das EGMR-Urteil nicht umgesetzt werde, antwortete Ramazan Demir: „Nicht wir, sondern der Europarat wird handeln. Die Prozedur steht eigentlich fest. Das Ministerkomitee wird die Kontrolle verschärfen und sich eindeutiger äußern. Die Urteile zu Osman Kavala und zu Selahattin Demirtaş legen eindeutig fest, was getan werden muss. Vor allem müssen beide freigelassen werden. Die Haftentlassung reicht jedoch nicht, sie müssen in allen Verfahren freigesprochen werden. Das Ministerkomitee hat auf der Sitzung im September die Einstellung des Kobanê-Prozesses und ähnlicher Verfahren gefordert. Die Türkei stellt sich weiterhin tot, aber das kann sie nicht auf Dauer tun. Deshalb ist die Sitzung des Ministerkomitees im Dezember wichtig. Für die Freilassung von Kavala ist der Türkei eine Frist bis zum 30. November gesetzt worden. Letztendlich wird der Europarat Sanktionen gegen die Türkei aussprechen müssen. Die letzte Konsequenz ist der Ausschluss aus dem Europarat. Ob es soweit kommt, wissen wir nicht, aber das Ministerkomitee wird auf jeden Fall schärfer als bisher auf die Missachtung der EGMR-Urteile reagieren.“
Hintergrund: Angeklagt wegen Kobanê-Solidarität
Angeklagt im sogenannten Kobanê-Verfahren von Ankara sind 108 Persönlichkeiten aus Politik, Zivilgesellschaft und der kurdischen Befreiungsbewegung, die im Zusammenhang mit den Protesten während des IS-Angriffs auf Kobanê im Oktober 2014 terroristischer Straftaten und des Mordes in dutzenden Fällen beschuldigt werden. Allein für den ehemaligen HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş fordert die Generalstaatsanwaltschaft bis zu 15.000 utopische Jahre Haft. 28 der Angeklagten sind inhaftiert.
Auslöser des Kobanê-Verfahrens ist ein Beitrag des HDP-Exekutivrats im Kurznachrichtendienst Twitter, der während einer Dringlichkeitssitzung verfasst worden war und neben Solidarität mit der von der Terrormiliz „Islamischer Staat” (IS) eingekesselten Stadt in Westkurdistan auch zu einem unbefristeten Protest gegen die türkische Regierung aufrief, da diese ihre Unterstützung für den IS nicht beendete: „Dringender Aufruf an unsere Völker […]! In Kobanê ist die Lage äußerst kritisch. Wir rufen unsere Völker dazu auf, auf die Straße zu gehen und diejenigen zu unterstützen, die bereits auf der Straße sind, um gegen die Angriffe des IS und gegen das Embargo der AKP-Regierung zu protestieren.”
Dutzende Tote, hunderte Verletzte
Im Zuge dessen kam es in vielen Städten zu regelrechten Straßenschlachten zwischen Sicherheitskräften sowie paramilitärischen Verbänden wie Dorfschützern und Anhängern der radikalislamistischen türkisch-kurdischen Hisbollah (Hizbullah) und den Demonstrierenden. Die Zahl der dabei getöteten Menschen, bei denen es sich größtenteils um HDP-Anhänder:innen handelte, schwankt zwischen 46 (IHD) und 53. Die Regierung spricht lediglich von 37 Toten. Viele von ihnen wurden durch Schüsse der Sicherheitskräfte getötet. Laut einem Bericht des Menschenrechtsvereins IHD wurden 682 Menschen bei den Protesten verletzt. Mindestens 323 Personen wurden verhaftet. Im Verlauf des Aufstands kam es zudem zu Brandanschlägen auf Geschäfte sowie öffentliche Einrichtungen. Die Regierung macht die HDP für die Vorfälle verantwortlich.
EGMR wertet Aufruf als politische Rede
Die Generalstaatsanwaltschaft Ankara legt den Twitter-Beitrag der HDP-Zentrale als Aufruf zu Gewalt aus. Laut Auffassung der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) liegen für diese Annahme keine Beweise vor. Im Dezember stellte das Straßburger Gericht im Fall Selahattin Demirtaş vs. Türkei fest, dass sich der Eintrag „innerhalb der Grenzen der politischen Rede” bewegte. Insofern könne der Tweet nicht als Aufruf zur Gewalt ausgelegt werden, urteilte die Kammer und forderte die sofortige Freilassung des ehemaligen Ko-Vorsitzenden der HDP.
ANF-Artikel als Beweismittel der Anklage
Als Beweismittel werden in der 3530 Seiten langen Anklageschrift unter anderem ANF-Artikel über die politischen Aktivitäten der Beschuldigten sowie ihre Äußerungen und Interviews herangezogen. Insgesamt sind 413 Seiten unserer Berichterstattung gewidmet worden. Weitere 62 Seiten behandeln die „Strukturen von PKK/KCK“, auf deren Anweisung Selahattin Demirtaş nach Auffassung des Oberstaatsanwalts mehrere Erklärungen abgegeben haben soll, unter anderem nach einem Besuch in Kobanê am 30. September 2014.
Die Angeklagten im Kobanê-Prozess
Bei den 108 Angeklagten handelt es sich um Figen Yüksekdağ, Sebahat Tuncel, Selahattin Demirtaş, Selma Irmak, Sırrı Süreyya Önder, Gülfer Akkaya, Gülser Yıldırım, Gültan Kışanak, Ahmet Türk, Ali Ürküt, Alp Altınörs, Altan Tan, Ayhan Bilgen, Nazmi Gür, Ayla Akat Ata, Aysel Tuğluk, Ibrahim Binici, Ayşe Yağcı, Nezir Çakan, Pervin Oduncu, Meryem Adıbelli, Mesut Bağcık, Bircan Yorulmaz, Bülent Barmaksız, Can Memiş, Cihan Erdal, Berfin Özgü Köse, Günay Kubilay, Dilek Yağlı, Emine Ayna, Emine Beyza Üstün, Mehmet Hatip Dicle, Ertuğrul Kürkçü, Yurdusev Özsökmenler, Arife Köse, Ayfer Kordu (Besê Erzincan), Aynur Aşan, Ayşe Tonğuç, Azime Yılmaz, Bayram Yılmaz, Bergüzar Dumlu, Cemil Bayık, Ceylan Bağrıyanık, Cihan Ekin, Demir Çelik, Duran Kalkan, Elif Yıldırım, Emine Tekas, Emine Temel, Emrullah Cin, Engin Karaaslan, Enver Güngör, Ercan Arslan, Fatma Şenpınar, Fehman Huseyn (Bahoz Erdal), Ferhat Aksu, Filis Arslan, Filiz Duman, Gönül Tepe, Gülseren Törün, Gülten Alataş, Gülüşan Eksen, Gülüzar Tural, Güzel Imecik, Hacire Ateş, Hatice Altınışık, Hülya Oran (Besê Hozat), Ismail Özden (Zekî Şengalî, am 15. August 2018 in Şengal bei einem gezielten Angriff der türkischen Luftwaffe ums Leben gekommen), Ismail Şengül, Kamuran Yüksek, Layika Gültekin, Leyla Söğüt Aydeniz, Mahmut Dora, Mazhar Öztürk, Mazlum Tekdağ (am 1. Oktober 2019 bei einem türkischen Luftangriff in den Medya-Verteidigungsgebieten gefallen), Abdulselam Demirkıran, Mehmet Taş, Mehmet Tören, Menafi Bayazit, Mizgin Arı, Murat Karayılan, Mustafa Karasu, Muzaffer Ayata, Nazlı Taşpınar (Emine Erciyes), Neşe Baltaş, Nihal Ay, Nuriye Kesbir (Sozdar Avesta), Remzi Kartal, Rıza Altun, Ruken Karagöz, Sabiha Onar, Sabri Ok, Salih Akdoğan, Salih Muslim, Salman Kurtulan, Sara Aktaş, Sibel Akdeniz, Şenay Oruç, Ünal Ahmet Çelen, Yahya Figan, Yasemin Becerekli, Yusuf Koyuncu, Yüksel Baran, Zeki Çelik, Zeynep Karaman, Zeynep Ölbeci und Zübeyir Aydar.