Politökonom Altınörs: Der Libyen-Krieg droht sich auszuweiten

Im Libyen-Krieg droht in eine weitere Phase der Eskalation. Wenn nicht bald eine Einigung erzielt wird, steht ein langjähriger Regionalkrieg bevor, warnt der Politökonom und Journalist Alp Altınörs.

Der Libyen-Krieg droht in eine weitere Phase der Eskalation einzutreten. Während die von Russland und Ägypten gestützten Kräfte um General Chalifa Haftar sowie das Parlament in Tobruk einen Waffenstillstand und Gespräche unter UN-Beobachtung angeboten haben, setzen die Türkei und Katar mit der von ihnen unterstützten islamistischen Regierung von Fayyiz as-Sarradsch auf Eskalation und lehnten jede Waffenruhe ab. Wir haben mit dem Politökonom und Journalist Alp Altınörs über die Lage in Libyen gesprochen.

Das Gleichgewicht in Libyen hat sich ziemlich verändert. Sarradsch hat die Oberhand gewonnen und Erdoğan gibt sich siegessicher. Was passiert in Libyen?

Es ist richtig, dass sich einiges in Syrien verändert und Haftar eine Niederlage erlitten hat. Aber es handelt sich nicht um eine militärische, sondern um eine politische Niederlage. Ende April hatte sich Haftar per Fernsehrede zum alleinigen Machthaber des nordafrikanischen Landes ausgerufen und die internationalen Vermittlungsbemühungen für beendet erklärt. Das war der Wendepunkt, der zu dieser Niederlage geführt hat. Es gibt weiterhin ein auch von den Vereinten Nationen anerkanntes Parlament unter dem Vorsitz von Aqila Salih Isa al-Ubaidi in Tobruk. Aufgrund der faktischen Zweiteilung Libyens wird Ubaidi als Regierungschef Ostlibyens betrachtet. Aber Haftar hat sich zur einzigen Autorität in Libyen erklärt. Auf der Libyenkonferenz in Berlin, wie auch auf der Konferenz des UN-Sicherheitsrats war aber die Rolle dieses Parlaments anerkannt worden. Mit dieser Erklärung schoss sich Haftar also selbst ins Aus und überwarf sich mit dem Parlamentspräsidenten in Tobruk.

Wir können also sagen, dass Haftar seine Lage teilweise selbst zu verantworten hat?

Genau so war es. Dies sehen wir auch daran, wie viele Städte er kampflos verlassen hat. Haftar zog sich nicht aufgrund einer militärischen Niederlage zurück. Russland und die USA haben interveniert. Haftar befand sich in einer Offensive auf Tripolis. Und nun hat er sich in die Grenzen des Status quo ante zurückgezogen.

Aber warum?

Weil Haftar sowohl auf politischer als auch auf diplomatischer Ebene schwere Fehler begangen hat und diese sowohl für Russland als auch die USA nicht mehr tragbar waren. Sie verlangten von ihm, sich hinter die alten Linien zurückzuziehen, bevor Verhandlungen beginnen sollten. Ja, an der Basis al-Watiya erlitt Haftar auch eine militärische Niederlage, aber sein Rückzug aus Tarhuna und Abu Grain am selben Tag war etwas anderes. Schließlich hat Haftar immer noch die Lufthoheit inne. Das Entscheidende war die politische Intervention von Russland und den USA. In diesem Prozess war es zu einer Einigung zwischen den beiden Großmächten gekommen. Aber als Sarradsch erklärte, die Initiative von Kairo auf Verhandlungen werde nicht anerkannt, stoppte Haftar den Rückzug in einigen Regionen. Aus Westlibyen hingegen hat er sich im Großen und Ganzen zurückgezogen. Washington hat allerdings einen Strategiewechsel in Bezug auf Libyen vollzogen. Denn nach dem Angriff auf das Konsulat im Jahr 2012 hatten die USA das Land weitgehend verlassen. Natürlich nicht vollständig, aber die USA agierten nur mit geringer Intensität in Libyen. Jetzt scheint es so, als nehmen die US-Aktivitäten zu, weil sich die Situation zu einem regionalen Krieg auszuweiten droht. Die Entsendung russischer Kriegsflugzeuge, wie auch die Pläne der Türkei, F-16-Bomber zu stationieren, sind Vorboten dieser Eskalation. Dies stellt den Grund für die größere US-Aktivität dar. Es ist nicht gewünscht, dass die Türkei als NATO-Staat so schwach gegenüber Russland dasteht.

Alp Altınörs war von 2014 bis 2016 stellvertretender Ko-Vorsitzender der HDP

Welchen wirklichen Einfluss hat die Türkei denn in dieser Region?

Offen gesagt denke ich, dass hinter den jüngsten Entwicklungen dort weit mehr steht, als die Interventionen der AKP-Regierung. Es gibt Abkommen zwischen Ankara und Tripolis und natürlich profitiert die Türkei davon. Aber wir müssen auch die Entwicklungen betrachten, denn es besteht immer noch die Möglichkeit, dass Haftar wieder in die Offensive geht. Die USA und Russland schaffen in Libyen einen bilateralen Mechanismus wie in Syrien. Erdoğan will, dass Haftar aus dem Spiel bleibt. Das kann passieren, aber Sarradsch könnte ebenso vom Feld getrieben werden. Sie können alle Parteien, die bisher Schwierigkeiten bereitet haben, an den Rand drängen und eine Regierung der nationalen Einheit bilden. Der Abzug aller ausländischen bewaffneten Elemente könnte als erster Punkt auf die Agenda kommen. Es wird dort keine positive Entwicklung im Sinne der Erwartungen Ankaras geben. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und Russland scheint mir ein wenig in folgende Richtung zu gehen: Lasst Haftar den Osten und gebt den Westen der Einheitsregierung. Dann setzen wir sie erneut an den Verhandlungstisch. Aber auch Russland nutzt diesen Hebel und wenn es keine Verständigung gibt, dann werden sie Libyen teilen und vorrücken. Andererseits, wenn Libyen geteilt wird, werden die Küstengebiete aus dem Seegebietsabkommen zwischen Ankara und Tripolis an Ostlibyen fallen. Wenn also Libyen zweigeteilt wird und Haftar den Osten bekommt, wäre das Abkommen zwischen Tripolis und Ankara obsolet. Deshalb ist es wichtig, alle Entwicklungen genau zu verfolgen.

Worauf beruht die Siegesstimmung der Türkei?

Das hängt auch etwas mit den italienischen Medien zusammen. Sie haben Erdoğan als alleinigen Souverän in Libyen dargestellt und ein Bild einer sehr erfolgreichen Politik der Türkei vermittelt. Das hat etwas mit der Position Italiens in Libyen zu tun. Wie Sie wissen, war Libyen eine italienische Kolonie. Die italienische Regierung steht an der Seite der Sarradsch-Regierung und daher auch an der Seite der Türkei. Das war schon vor der türkischen Intervention so. Es liegt im Interesse Italiens, dass die AKP dort Truppen und syrische Söldner hinbringt. In der Tat betrachtet die italienische Presse diesen Punkt positiv. Auch die internationale Presse betreibt Schaumschlägerei, wenn sie eine Stimmung verbreitet, als hätte die Türkei schon gewonnen. Das Wesentliche in der Region ist doch die Initiative Ägyptens. Sisi hat sich mit Ubaidi und Haftar in Kairo getroffen. Damit war Haftars Erklärung, er sei der einzige Repräsentant Libyens, nichtig. Die ägyptische Regierung hat Tobruk und Haftar auf eine Ebene gestellt und die Rolle des Parlaments unterstrichen. Ägypten betonte auch, dass diese diplomatische Offensive von Frankreich, Russland und den USA unterstützt werde. Es kursieren mittlerweile unbestätigte Videos, die zeigen sollen, dass bewaffnete ägyptische Kräfte nach Libyen eingedrungen seien. Da gibt es auch keine Begrenzung der Eskalationsspirale, denn wenn die AKP ankündigt, die türkische Militärpräsenz zu verstärken, dann zieht Ägypten nach. Wenn Ägypten nachzieht, dann werden die Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabien ebenfalls Truppen entsenden. Und so droht ein Krieg, der die gesamte Region erfasst.  

Gibt es auch Möglichkeiten für eine Lösung?

Die einzige Lösung wäre, alle ausländischen bewaffneten Elemente aus Libyen abzuziehen. Das schließt natürlich auch die Söldner aus Syrien ein. Es müssten Verhandlungen unter Aufsicht der Vereinten Nationen beginnen. Die sogenannte Regierung der Nationalen Einheit ist dies nur dem Namen nach. Sie wurde 2015 gebildet. Das „libysche politische Abkommen“, das dieser Regierung zu Grunde lag, ist bereits 2017 ausgelaufen. Seit drei Jahren handelt es sich um eine Regierung, die sich Einheitsregierung nennt, aber in Wirklichkeit für Polarisierung steht. Auch für die meisten Menschen in Libyen besitzt diese Regierung keine Legitimität mehr. Es müsste wie 2015 eine Versammlung aller Parteien an einem Tisch geben. Natürlich entspricht das wahrscheinlich nicht dem, was die AKP will.

Und die Alternative wäre ein neuer regionaler Krieg?

Der IS ist in Libyen aktiver geworden. Es gibt viele Milizen, die aus Syrien dorthin gebracht worden sind. Abgesehen von der Regierung gibt es hunderte verschiedene Fraktionen. Wir haben keine Möglichkeit die Situation zu verstehen, wenn wir nicht in die Zeit vor dem Sturz Muammar al-Gaddafis zurückgehen. Das Land hat sich nicht von der Zerstörung durch die NATO erholt. Aber auch die AKP-Regierung spielte bei der Zerstörung Libyens und der Schaffung des Problems eine wichtige Rolle. Sie sagte einerseits, „Was hat die NATO in Libyen verloren?“, hat sich aber selbst eingemischt. Wie gesagt, wenn es keine Lösung gibt, dann gibt es einen großen Krieg. Ich denke die USA haben deswegen interveniert. Der US-Gesandte hat auch an die Sarradsch-Regierung appelliert und vor einem Krieg gewarnt, falls keine Verhandlungen stattfinden. Sowohl Haftar als auch Sarradsch wollten sich nicht an den Verhandlungstisch setzen. Aber was passiert jetzt? Sarradsch versucht einen Termin von Moskau zu erhalte. Das zeigt, dass der Einfluss von Ankara begrenzt ist. Denn Sarradsch geht nach Moskau, um eine Lösung zu finden. Man kann auch nicht davon reden, dass Haftar am Ende wäre. Sarradsch ist jetzt in derselben Rolle, wie Haftar vor eineinhalb Monaten, als dieser sich zur einzigen Autorität erklärte. Es handelt sich um einen innerlibyschen Bürgerkrieg, aber wenn man immer mehr Kräfte von außen in den Konflikt pumpt, dann weitet er sich aus und wird wie der Libanon-Krieg Jahrzehnte andauern. Es ist schließlich auch Öl im Spiel.


Alp Altınörs (Jahrgang 1977) ist studierter Politökonom, Journalist und Schriftsteller und lebt in Istanbul. Er war Chefredakteur der MLKP-Parteizeitung „Atılım“, verantwortlicher Redakteur beim Istanbuler Ceylan-Verlag und schrieb Artikel für die prokurdische Zeitung „Özgür Gündem“, die 2016 per Notstandsdekret von der türkischen Regierung verboten wurde. 2008 wurde er Ko-Koordinator der „Nazım-Hikmet-Akademie für marxistische Wissenschaften“, an der er politische Ökonomie unterrichtete.

Als Mitglied der Initiative „Taksim-Solidarität“ wurde Alp Altınörs bei den Gezi-Protesten im Sommer 2013 in Istanbul von einer Tränengaskartusche der Polizei am Kopf getroffen und verletzt. Er wurde verhaftet und saß acht Monate im Hochsicherheitsgefängnis von Tekirdağ. Beim zweiten HDP-Parteitag im Juni 2014 wurde Altınörs zum Mitglied des zentralen Exekutivrats gewählt. Als stellvertretender Ko-Vorsitzender war er verantwortlich für Beziehungen mit der Zivilgesellschaft und politischen Parteien. Bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Juni 2015 stellte er sich im Wahlbezirk Samsun auf, schaffte aber nicht den Einzug ins Parlament. Im September 2016 wurde Altınörs im Rahmen der HDP-Operationen wegen sogenannten Terrorvorwürfen verhaftet, weil er an der Beerdigung von Zakir Karabulut teilgenommen hatte. Karabulut saß im Vorstand der HDP in Tokat und starb bei dem verheerenden IS-Anschlag am 10. Oktober 2015 auf eine Friedenskundgebung in Ankara. Altınörs wurde vorgeworfen, auf der Beerdigung Mitglieder für eine illegale Organisation „rekrutiert“ zu haben. Im Juni 2017 wurde er aus dem Gefängnis entlassen.

Alp Altınörs schreibt Artikel für die marxistische Internetzeitschrift „Abstrakt“ und das regierungskritische Internetportal „Artı Gerçek” und übersetzt Texte aus dem Englischen, Spanischen und Russischen. 2019 erschien sein kapitalismuskritisches Buch „İmkânsız Sermaye - 21. yüzyılda Kapitalizm, Sosyalizm ve Toplum” (zu deutsch: „Unmögliches Kapital - Kapitalismus, Sozialismus und Gesellschaft im 21. Jahrhundert”).