Besê Erzincan: Frauen bestimmen die Richtung

Besê Erzincan (KJK) erklärt, dass weniger die Krise des globalen Hegemonialsystems die künftigen Entwicklungen bestimmen wird, sondern vielmehr die organisierte, geplante und zielorientierte Intervention von Frauen.

Besê Erzincan ist Koordinationsmitglied der Gemeinschaft der Frauen Kurdistans (KJK) und hat sich im ANF-Interview zum Stand des Frauenbefreiungskampfes bei der Guerilla, in allen Teilen Kurdistans und im Mittleren Osten geäußert.

Welche Bedeutung hat die Frauenguerilla in der Entwicklungsgeschichte des Frauenbefreiungskampfes?

Frauen sind in der Geschichte immer davon abgehalten worden, eine strategische Kraft im Leben darzustellen. Sie sind in einen kraftlosen Zustand versetzt und in die Position von Sklavinnen und Gefangenen gezwungen worden. Die Versklavung von Frauen hat mit der Zerstörung ihres Selbstverteidigungssystems und ihrer organisierten Lebensstrukturen begonnen. Gewalt gegen Frauen steht in einem direkten Zusammenhang mit fehlenden Möglichkeiten der Selbstverteidigung. In dem von Abdullah Öcalan angeführten kurdischen Befreiungskampf haben Frauen innerhalb der Guerillaarmee ein eigenes System und eigene Entscheidungsmechanismen aufgebaut. Damit spielen sie eine strategische Rolle bei der Verteidigung von Frauen und ihres Landes. Die Entstehung eines radikalen Frauenbefreiungskampfes hat hier ihren Ursprung.

Frauen in nationalstaatlichen Armeen vermännlichen und befinden sich teilweise in Gefahr. Dass eine Frau in einer Männerarmee ihre Persönlichkeit und ihre Weiblichkeit bewahrt und heil daraus hervorgeht, ist nahezu unmöglich. Nationalstaatliche Armeen sind nationalistisch, rassistisch und sexistisch. Sie sind von einer Vergewaltigungskultur geprägt.

Somit sind die strategische Präsenz und die führende Rolle kurdischer Frauen in einer Guerillaarmee von historischer Bedeutung. Es geht um die Herausforderung des fünftausendjährigen männlichen Herrschaftssystems. Mit der Beteiligung von Frauen an der Guerilla in Kurdistan sind die Lügen des Patriarchats entlarvt worden.

Die Frauen bei der Guerilla sind eine unglaubliche Quelle der Freiheit und Gleichheit. Sie spielen eine außerordentliche Rolle bei der Sichtbarmachung der historischen Frauenrealität. Die Frauenguerilla hat alle mythologischen, philosophischen, religiösen und wissenschaftlichen Darstellungen von Frauen als Sklavinnen und Geschlecht zweiter Klasse dem Erdboden gleichgemacht. Frauen sind bei der Guerilla mit ihrer eigenen Identität und eigenen Strukturen der Willensbildung präsent. Ihre demokratische und freiheitliche Art und Weise wirkt sich auf die gesamte Guerilla aus. In unseren Reihen befinden sich die größten Guerillakommandantinnen der Geschichte. Es ist eine Frauenkommandoebene entstanden, die über große Erfahrungen und Führungsqualitäten verfügt und Kampftaktiken umsetzen kann. Die Frauen sind bei der Guerilla sowohl bei Aktionen als auch im Leben führend. Sie kommandieren auch Männereinheiten. Freie Frauen sind ein strategisches Element für die Schaffung freier Männer und eines alternativen Lebens. Die Frauenguerilla ist das Zentrum für die Entstehung eines freien Lebens.

Auch der Kampf von Frauen in der Türkei hat eine lange Geschichte. Mit welcher Perspektive können diese Kämpfe miteinander verbunden werden?

Der Frauenkampf in der Türkei geht bis in die osmanische Zeit zurück. Vor der Republikgründung gab es vor allem in Istanbul Organisationen, Gemeinden und Parteien von Frauen. Danach wurden viele Frauengemeinschaften geschlossen oder verloren an Einfluss. Die Frauen aus der Türkei müssen ihre eigene Stärke, ihre Kämpfe und ihre Geschichte erkennen. In der Geschichte der Türkei und auch heute wurde und wird ein ernster und schwieriger Frauenbefreiungskampf geführt, sowohl innerhalb linker und demokratischer Bewegungen als auch in feministischen Bewegungen. Es gibt eine wichtige Tradition und Erfahrung im Frauenkampf. In dieser Hinsicht ist der Freiheitskampf von Frauen aus der Türkei auch unser Kampf.

Die Frauen in Rojava haben die Revolution geprägt und ein großes Echo in der Welt hervorgerufen. Warum stört diese Tatsache das hegemoniale System und mit welchen Methoden drückt es dieses Unbehagen aus?

Die Haltung und das System von Frauen in Rojava beunruhigt das System der kapitalistischen Moderne sehr. Das männliche Herrschaftssystem will nicht, dass sich Frauen befreien, keine Ware und kein Eigentum mehr sind und gleichberechtigt am gesamten gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Daher sorgt der Widerstand der YPJ für ernste Unruhe. Frauenbefreiung wird nicht toleriert. Die YPJ haben die Codes des auf männlicher Herrschaft und weiblicher Versklavung basierenden Lebens geknackt. Die Menschheit wurde von YPJ-Kämpferinnen gerettet. Die Menschheit wird nicht von den Männerarmeen der heuchlerisch Freiheit und Demokratie propagierenden Staaten gerettet, sondern von Volksarmeen unter der Führung von opferbereiten Frauen, die Demokratie und Freiheit in ihrem Leben und in ihrer Persönlichkeit praktizieren. Das hat sich bewiesen. Und dieses System soll jetzt zerstört werden. Männlich dominierte Armeen wollen den Kampf der YPJ, die YPG und QSD unsichtbar machen und sich selbst in den Vordergrund drängen. Das darf nicht zugelassen werden.

Die Angriffe im Mittleren Osten, die sich auf Rojava konzentrieren, sollen die Sonne der Frauenrevolution verdunkeln. Der Mittlere Osten ist vom hegemonialen Männersystem zur erneuten Verteilung ausgeschrieben. Bei dieser Aufteilung soll Frauen und Kurden in keiner Form Raum gegeben werden. Unser Frauenkampf hat die arabischen, türkischen, persischen, armenischen, assyrischen, aramäischen, alevitischen und alle Frauen und Völker der Region beeinflusst und aufgeweckt. Er hat ein Bewusstsein geschaffen. In Rojava wird ein auf Selbstverteidigung basierendes Frauensystem mit dem demokratischen Prinzip einer gleichberechtigten Vertretung aufgebaut: Der Frauenkonföderalismus. Es entwickelt sich ein neues Lebensmodell. Mit dieser Einstellung kann die Frauenrevolution in Rojava nur erfolgreich sein.

Auf welcher Ebene befindet sich der Kampf von Frauen in Süd- und Nordkurdistan?

Eigentlich haben Frauen an allen Volksaufständen im Mittleren Osten mit großer Begeisterung und Überzeugung teilgenommen, vor allem im Irak, Irak und Libanon. In Rojava und damit in Syrien findet ohnehin eine Frauenrevolution statt. Auch in der Türkei sind es die Frauen, die laut werden gegen den herrschenden Faschismus und sich wehren.

Den Frauen in Südkurdistan ist es zu Jahresbeginn gelungen, gemeinsam Position zu beziehen gegen patriarchale Gesetze, Fatwas, Kindesmissbrauch und Frauenmorde. Es findet eine Annäherung unter Frauen statt. Wir beobachten eine zunehmende Einheit und Sympathie, unabhängig von der politischen Einstellung oder Ideologie. Patriarchales Verhalten, mit dem Frauen ins Haus zurückgedrängt, aus der Politik und dem gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen und klein gemacht werden, wird immer weniger hingenommen. Das ist eine sehr wichtige Entwicklung. In Südkurdistan werden Schritte für einen noch besser organisierten und gemeinsamen Frauenbefreiungskampf gesetzt.

Auch in den Frauenkämpfen in Ostkurdistan und im Iran finden trotz massiver Repressionen Entwicklungen statt. Der Widerstand wird größer. Die Frauen wollen sich selbst gehören und eigene Entscheidungen treffen. Bei den kurdischen Frauen sind das Bewusstsein, die Suche nach Freiheit und patriotische Gefühle gewachsen. Man kann von einem Fortschritt und einer Entwicklung zur Frauenfrage sprechen.

Die Frauen in Şengal haben nach dem Ferman und den Tagen der Massaker ihre eigene Selbstverwaltung und Räte aufgebaut und damit unter schwierigsten Umständen eine Neugeburt erlebt. Die Frauen aus Şengal werden bewusster, organisieren sich, übernehmen ihre Selbstverteidigung und entwickeln sich weiter. Diese Entwicklung wird sich fortsetzen.

Der Grund für den Anstieg von Feminiziden im Mittleren Osten und weltweit ist der immer stärker werdende Befreiungskampf von Frauen. Der hegemoniale Mann, das herrschende Männersystem will den Widerstand von Frauen brechen. Außerdem lassen sich Frauenmorde durch den organisierten Kampf von Frauen nicht mehr so leicht vertuschen. Die Bündnisse, in denen sich Frauen in Istanbul gegen Gewalt zusammengeschlossen haben, sind beispielhaft. Die Frauen treten füreinander ein und lassen keine Frau allein. Sie heften sich an die Fersen der männlichen Mörder und kämpfen dafür, dass die Täter die Strafe bekommen, die ihnen zusteht.

Männliche und staatliche Gewalt gegen Frauen speisen sich aus derselben Quelle. Dass die Unterdrückung von Frauen, ihre Beschränkung auf das häusliche Umfeld und die Versklavung im Dienste des Mannes eine der wichtigsten Methoden dafür ist, ist bekannt. Frauen sollen mit Gewalt in ihrem Sklavendasein gehalten werden.

Weil der Widerstand von Frauen immer größer wird, weil Frauen füreinander einstehen und das Thema ständig auf der Agenda halten, wird es für den Staat und die dominante Männlichkeit immer schwieriger, sich zu behaupten. Wir glauben daran, dass unser Kampf immer initiativer und selbstbewusster werden wird. Und wir wissen, dass Freiheit im Kopf beginnt.