„Wir sind Frauen, die nicht gefangen gehalten werden können“

Die seit dreieinhalb Jahren inhaftierte kurdische Politikerin Gültan Kışanak erklärt in einem Interview zum Weltfrauentag: „Wir sind Frauen, die nicht gefangen gehalten werden können. Mit unseren Liedern und Tänzen sind wir bei euch.“

Die seit 2016 inhaftierte kurdische Politikerin und ehemalige Bürgermeisterin von Amed (Diyarbakır), Gültan Kışanak, hat sich im ANF-Interview zum 8. März in der Türkei und Kurdistan geäußert.

Wie bewerten Sie die aktuelle Lage der Frauen in der Türkei und Nordkurdistan?

In der Türkei durchleben wir generell in Bezug auf demokratische Rechte und Freiheiten eine schwere Zeit. Die autoritäre Herrschaft hat für Frauen zerstörerische Konsequenzen. Es geht um autoritäre Herrschaft, die Akkumulation von Macht, darum, dass Unterschiedlichkeiten als feindlich denunziert, verurteilt und zum Schweigen gebracht werden. Es wird Huldigung erwartet. Selbst der kleinste Widerspruch wird mit Gewalt ausgelöscht. Wer dem offiziellen Diskurs widerspricht, wird zum Verräter und ähnlichem erklärt. Diese Mentalität verstärkt das Patriarchat und schafft ein Klima, in dem Gewalt gegen Frauen, die ihr Leben selbst in die Hand nehmen, legitimiert wird. Feldforschungen aus der ganzen Welt belegen in solchen Phasen eine Zunahme von patriarchaler Gewalt.

Es bleibt aber nicht bei einer allgemeinen, autoritär-nationalistischen und militaristischen politischen Atmosphäre in der Türkei. Die von Frauen durch einen langen und opferreichen Kampf geschaffenen Errungenschaften, Rechte und Freiheiten sollen zerschlagen werden. Die Schließung von Fraueneinrichtungen, die Verfolgung des Modells der Ko-Vorsitzenden als Straftat, das Verbot von Frauenaktivitäten, die Angriffe auf Frauen, die auf die Straße gehen oder Pressekonferenzen abzuhalten versuchen, die Einmischung der höchsten Staatsführung in Fragen, die den Körper und die Gesundheit der Frauen betreffen, wie zum Beispiel auf welche Weise Frauen wie viele Kinder gebären sollen, können als einige Beispiele der Angriffe auf Frauen durch die Regierung aufgezählt werden. Die Mentalität der Regierung manifestiert sich in den patriarchalen Männern zu Hause, auf der Straße und der Arbeit. Sie richtet sich aktiv gegen Frauen. Ohne diese Mentalität zu ändern, kann keine polizeiliche Maßnahme oder schwere Strafe die Frauenmorde stoppen. Und wir sehen die gleiche Mentalität in allen Bereichen, die eigentlich von Gewalt betroffene Frauen schützen müssten. Während Personen, die zwei Worte gegen die Regierung sagen, jahrelang in den Gefängnissen sitzen, bewegen sich Männer, die Frauen schlagen, verletzen und bedrohen, frei auf der Straße. Selbst Frauenmördern wird unter tausendundeinem Vorwand Strafnachlass gewährt.

Noch gefährlicher sind die Entwicklungen um die Legalisierung der Kinderehe, den Unterhalt, das Ende der Umsetzung der Istanbul-Konvention, welche dem Staat Maßnahmen gegen patriarchale Gewalt zu Hause auferlegt, und die Änderungen gesetzlich garantierten Schutzes von Frauen. Wenn hier die Frauen und alle demokratischen Kräfte nicht massiv gemeinsam dagegen kämpfen und die Gesetzesvorhaben umgesetzt werden, ist sogar die verfassungsrechtliche Gleichberechtigung der Geschlechter gefährdet. So ernst ist die Lage.

Die Kämpfe verbinden

Wie betrachten Sie die Kämpfe und die Haltung der Frauenbewegung?

Die Haltung der Frauenbewegung gegen diese langjährige Welle der Unterdrückung und Einschüchterung wird weiterhin deutlich von den Frauen auf der Straße gezeigt. Frauen sind zur entschlossensten und dynamischsten Komponente der Opposition geworden. Diese Haltung ist für uns eine Quelle der Stärke und der Moral. Ich denke, der Frauenwiderstand dieser Zeit wird seinen Platz in der Geschichte des Frauenkampfes einnehmen.

In der Türkei findet alle zehn Jahre ein Putsch statt. Rechte und Freiheiten werden aufgehoben und es lösen sich Phasen des Ausnahmezustands ab. Aber wir haben niemals eine so lange und intensive Phase der Repression erlebt. Normalerweise dauern die Putschphasen zwei bis drei Jahre an und dann kann die Gesellschaft allmählich wieder Atem schöpfen. Aber heute erleben wir einen politischen Putsch, der pausenlos, seit 2015 andauert und der Gesellschaft und insbesondere den Frauen die Luft zum Atmen genommen wird.

Die Aufgabe, diesen antidemokratischen Prozess umzukehren, sollte aber nicht allein den Frauen zufallen. Die Frauenbewegung sollte eine Rolle spielen, welche die demokratischen Kräfte zum gemeinsamen Handeln ermutigt und ihnen den Weg ebnet. Wenn Frauen, Jugendliche, Werktätige, Arme, unterschiedliche Identitäten und Überzeugungen, alle unterdrückten Gruppen eine gemeinsame Haltung im Kampf für Rechte, Recht, Freiheit und Frieden einnehmen können, kann dieser Niedergang gestoppt werden.

Verteidigung des Modells der Ko-Vorsitzenden ist Grundlage

Warum ist das Modell der Ko-Vorsitzenden wichtig? Wird es ausreichend verteidigt?

Der Ko-Vorsitz ist die wichtigste Errungenschaft im Kampf um die Gleichstellung der Geschlechter. Zunächst einmal ist es eine Methode, mit der die den Frauen beigebrachte Passivität durchbrochen wird, die sie dazu bringt, sich als Subjekte zu sehen und sie dazu ermutigt, ihre Träume zu verfolgen. Eine weitere Dimension ist die Lösung des Problems der Ungleichheit der Geschlechter. Es geht nicht um die Opposition der verschiedenen Geschlechter, sondern darum zu lernen, wie man gemeinsam eine demokratische und gleichberechtigte Beziehung aufbauen kann.

Der wichtigste Grund für die Ungleichheit der Geschlechter ist, dass Männer Frauen nicht als gleichberechtigt betrachten. Um die patriarchale Sichtweise auf Frauen als emotional, unvollständig und unangemessen zu brechen, ist eine Struktur erforderlich, in der Frauen die gleichen Pflichten und Verantwortlichkeiten haben. Das Modell des Ko-Vorsitzes offeriert diese Möglichkeit.

Die zweite Dimension des Ko-Vorsitzes ist die Demokratisierung der Politik. Ein Politik- und Regierungsverständnis, das Frauen, die immerhin die Hälfte der Gesellschaft ausmachen, von Politik und Entscheidungsmechanismen ausschließt, kann nicht demokratisch sein. Seit tausenden von Jahren entscheiden Männer an Stelle von Frauen. Damit Frauen eine autonome Einheit bilden, müssen sie die Möglichkeit haben, über sich selbst und ihre Zukunft zu entscheiden. Der Ko-Vorsitz gibt Frauen diese Macht und ebnet den Weg für ein demokratisches Wesen von Politik und Leitung.

Die dritte Dimension des Ko-Vorsitzes bezieht sich auch auf die Gesellschaft. Auch hier hat die männlich dominierte Mentalität seit tausenden von Jahren die Gesellschaft erobert und den demokratischen Charakter der natürlichen Gesellschaft zerstört. Es hat sich zu einem sozialen Reflex entwickelt, dass Frauen als abhängige Individuen mit Männern zusammenleben sollen. Tatsächlich sind die sozialen Regeln, die eigentlich die Gleichberechtigung der Frauen schützen müssten, entsprechend dieser patriarchalen Vorannahme geformt. Die Korrektur dieses Fehlers ist ein wichtiger Schritt, um dem demokratischen Wesen der Gesellschaft gerecht zu werden.

Die vierte Dimension des Ko-Vorsitzes besteht darin, dass es nicht darum geht, Macht zu etablieren und zu herrschen, sondern dass Führung eine Frage der gleichberechtigten Koordination darstellen sollte. Die Frauen haben das Modell des Ko-Vorsitzes nicht aufgebracht, um mit der Herrschaft eins zu werden, sondern um die Form der Verwaltung zu ändern und gemeinsam Entscheidungen zu treffen. Es ist nicht logisch von einer Lokalverwaltung, die den Befehlen und der Willkür einer Person ausgeliefert ist, Dienste für alle Bereiche der Gesellschaft zu erwarten. Das „Ein-Mann-Regime“ stellt auf allen Ebenen ein ernstes Problem dar.

Nicht nur ein Problem der Frauen

Auch wenn das Modell des Ko-Vorsitzes nur für sehr kurze Zeit angewandt werden konnte, so hat es dazu beigetragen, ein äußerst wichtiges Bewusstsein zu den genannten Bereichen zu schaffen. Trotz Festnahmen, Ermittlungen und Inhaftierungen wurden für die Frauen und eine demokratische Gesellschaft wichtige Ergebnisse erreicht.

Zum Punkt der Unterstützung des Modells ist es wichtig zu wissen, dass es da Unzulänglichkeiten gegeben hat. Das größte Problem ist es, dass die Bedeutung des Ko-Vorsitzes und die dahinterstehende Absicht nicht ausreichend in Politik und Gesellschaft kommuniziert wurde. Das Problem sind nicht nur die Angriffe und Interventionen durch die Regierung. Das Hinterfragen der patriarchalen Mentalität und deren Änderung zu erzwingen, sind ein Anliegen, das nicht nur die Frauen, sondern die ganze Gesellschaft betrifft. Es geht darum klar zu machen, dass dies eine Errungenschaft für die demokratische Politik darstellt.

Die Frauen stehen in der ersten Reihe im Kampf gegen das System

Wenn wir Chile und Mexiko betrachten – überall gibt es Massenkämpfe von Frauen. Ist Ihrer Meinung nach eine neue Phase der Frauenkämpfe angebrochen?

Die Frauenbewegung hatte sich aufgrund der Diskussionen um die dritte Welle des Feminismus und Frauenparteilichkeit etwas aufgespalten. Aber schließlich konnte sowohl intellektuell als auch aktivistisch eine antisystemische Positionierung stärker auf die Tagesordnung gebracht werden. Die Frauen in Asien arbeiten am Aufbau alternativer ökonomischer Produktionsmodelle gegen die Ausbeutung ihrer Arbeitskraft und ihre wirtschaftliche Ausgrenzung. In Südamerika hat sich die Frauenbewegung an die Spitze der Proteste gegen die internationalen Konzerne gestellt, um gegen die Ausbeutung der Natur und ihrer Ressourcen und im Kampf um die Rechte der indigenen Bevölkerung zu protestieren und Widerstand zu leisten. Das Patriarchat, das Frauen mit der Natur assoziiert und sie beide unterdrückt und zu beherrschen sucht, stößt sowohl auf der ökologischen als auch auf der antipatriarchalen Ebene auf den Widerstand von Frauen. Frauen sind auch zur Grunddynamik gegen Flucht, Besatzung, Krieg und autoritäre Regime im Mittleren Osten geworden. Frauen stellen die entscheidende Kraft hinter dem pluralistischen, demokratischen und geschlechterbefreiten Gesellschaftsaufbau in Rojava dar. Die Revolution von Rojava wurde weltweit als Frauenrevolution bekannt. Im Moment befindet sich der globale Kapitalismus in der Krise und er versucht den Werktätigen und den Armen die Folgen der Krise aufzubürden. Den Widerspruch dagegen führen ebenfalls Frauen an.

Unterdrückungsmechanismen sind um das Patriarchat herum vernetzt

Die Frauenbewegung hat in den Kämpfen um Bürgerrechte, gegen den Kolonialismus und in den Klassenkämpfen wichtige Erfahrungen sammeln können. Sie hat ein Bewusstsein darüber geschaffen, dass alle Herrschaftsmechanismen miteinander vernetzt sind und im Zentrum dieses Netzes wie eine Spinne das Patriarchat sitzt. Sie hat die Fähigkeit gewonnen, sozialen Kämpfen eine Richtung zu geben und sie zu entwickeln. Der Punkt, an dem wir uns befinden, ist daher sehr wertvoll. Der Kampf von Frauen um Freiheit und Gleichheit hat sich ebenso zum Kampf um ein neues demokratisches und gleichberechtigtes Leben entwickelt. Frauen zeigen überall Haltung gegen Femizide, sie tanzen auf der ganzen Welt auf die gleiche Weise und drücken damit ihren Protest aus. Das ist zum Symbol der globalen Frauenbewegung geworden. Es ist unglaublich wertvoll, dass die Frauenbewegung, die seit langen Jahren mit Streiks und verschiedenen anderen Methoden an einen Punkt gekommen ist, an dem sie ohne organisierten Anlass, aus dem gleichen Gefühl und aus dem gleichen Reflex heraus auf die Straße geht. Das zeigt, dass die Frauenbewegung wichtige Schritte auf ihrem Weg geschafft hat.

Wie verbringen Sie einen Tag im Gefängnis?

Gefängnisse sind Räume, die auf Entmenschlichung, auf Demoralisierung und Zerstörung abzielen. Wenn sich ein Mensch dessen bewusst ist, kann dieser Raum in das Gegenteil verkehrt werden. Das Gefängnis kann zu einem Raum der unbegrenzten Träume werden, in dem man seinen eigenen Willen stärkt und neue Fenster zur Gefühls- und Gedankenwelt öffnet. Deshalb reicht einem eigentlich die Zeit kaum aus. Ein Leben zu führen, ohne sich der vorgegebenen Routine zu ergeben, gibt einem unglaubliche Freude, auch wenn es schwer ist. Selbst die Möglichkeit, sich durch Schreien bei Freundinnen Gehör zu verschaffen, gibt den Menschen die Freude, die Isolation zu durchbrechen. Oder in einem Samowar zu kochen, mit Stiften zu stricken ... Vor allem beim Lesen von Büchern keine Sorgen zu haben, jede Zeile zu kommentieren und zu lesen, ist ein unglaubliches Vergnügen.

Bei den Vorbereitungen für besondere Anlässe wie dem 8. März wird so viel Mühe aufgewandt, die Beteiligung von allen zu ermöglichen, dass auch Frauen, die noch nie in ihrem Leben versucht haben zu singen, musikalische Fähigkeiten entwickeln. Kurz gesagt, das männlich dominierte autoritäre System tut nichts Kluges, wenn sie uns ins Gefängnis steckt.

Wir werden mit unseren Parolen an eurer Seite sein

Was ist ihre Botschaft zum 8. März an die Frauen?

Alle Frauen feiern den internationalen Tag der arbeitenden Frauen am 8. März. Ich wünsche mir, dass sich der Wille der Frauen, einen neuen Prozess anzuführen, auf den Straßen und Plätzen widerspiegelt. Wir Frauen können auf alle Angriffe auf unseren Körper, unsere Identität, unseren Willen, unsere Arbeit und unsere Existenz nur mit wachsender Solidarität und Organisierung unter den Frauen reagieren.

Die Parole „8. März ist nicht nur ein Tag“ ist ein kraftvoller Slogan, der sowohl Frauenmorde und Krieg als auch die autoritäre reaktionäre Herrschaft stoppen kann. Jetzt ist es an der Zeit, die Plätze zu füllen und den Kampf gegen die Herrschaft zu verstärken. Jetzt ist es an der Zeit, den Weg zum Frieden zu öffnen, indem wir die Fackel der Freiheit und Gleichheit bringen, das Feuer am 8. März und Newroz entzünden. Wir, als Frauen, die nicht gefangen genommen werden können, werden mit unseren Parolen, Liedern und Tänzen mit euch auf den Straßen und Plätzen sein.

Was wollen Sie den Frauen in Amed mitteilen?

In Amed gab es immer ein hohes Bewusstsein über den Frauenfreiheitskampf. Die vielfältige Struktur der Stadt hat immer auch die Organisierung und Solidarität von Frauen mit sich gebracht. Diese Stadt kann den Erfolg und die Stärke einer Frauenplattform, an der alle Frauenorganisationen teilnehmen, bezeugen. Es wurde sich gegen jede Form von Gewalt gegen Frauen positioniert und ein deutliches Signal gegen Gewalt in der Familie gesetzt. Parks wurden nach Frauen benannt, die von ihren Männern ermordet wurden. So wurde nicht zugelassen, Morde an Frauen hinter dem Schleier von „Ehre“ und „Tradition“ zu verbergen. In Amed haben machtvolle Aktionen zur Verurteilung von Frauenmorden stattgefunden. Gewalt gegen Frauen wurde zurückgedrängt. Anlässlich des 8. März war Amed zur „Frauenstadt“ erklärt worden, die Stadtverwaltung, die zivilgesellschaftlichen Organisationen, die Gewerkschaften, die Menschenrechtsorganisationen, alle haben die Führung eine Woche lang den Frauen überlassen. Im Namen der Plattform wurde sogar der Gouverneur aufgerufen, seine Stelle eine Woche lang einer Frau zu überlassen. Amed ist eine Stadt, in der der Frauenfreiheitskampf große Akzeptanz errungen hat. Amed hat eine Phase der gesellschaftlichen Aufklärung erlebt, so dass Männer, die Frauen unterdrücken oder Gewalt gegen sie ausüben, die den Willen von Frauen nicht akzeptieren, gesellschaftlich geächtet werden. Die Frauen von Amed haben immer in der ersten Reihe gekämpft und ich bin davon überzeugt, dass sie auf diesem Weg weiter gehen. Ich wünsche allen viel Erfolg.