Vor der 1. Großen Strafkammer Malatya (Meletî) hat der neu aufgelegte Prozess gegen Sebahat Tuncel und Gültan Kışanak begonnen. Die beiden kurdischen Politikerinnen wurden Ende 2016 verhaftet und sind im Februar 2019 wegen Terrorismusvorwürfen zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt worden. Wegen „Gründung und Leitung einer Organisation“ sowie „Organisationspropaganda“ wurde die ehemalige Oberbürgermeisterin von Amed (Diyarbakir), Gültan Kışanak, zu 14 Jahren und drei Monaten sowie die DBP-Vorsitzende Sebahat Tuncel zu 15 Jahren Haft verurteilt. Vor einem halben Jahr hob ein türkisches Revisionsgericht das Urteil gegen Sebahat Tuncel und Gültan Kışanak auf.
Die beiden Angeklagten wurden für die Verhandlung aus dem Gefängnis in den Gerichtssaal gebracht und gaben Erklärungen ab. Sebahat Tuncel, die 2007 als politische Gefangene zur Abgeordneten ins türkische Parlament gewählt wurde, sagte einleitend, ihr sei bewusst, dass ihre Verteidigung nichts am Ergebnis des Prozesses ändern werde. Dennoch sei es wichtig, einige Fakten für die Geschichtsschreibung festzuhalten: „Dieser Prozess entspricht nicht den internationalen Rechtsnormen. Ich spreche hier vom Ein-Mann-System, das einen postmodernen Putsch gegen das Rechtssystem darstellt. Ein ähnliches Vorgehen gab es in der Hitler-Zeit. Die Judikative, das Parlament, Menschenrechte – alles wird außer Kraft gesetzt. Wer widerspricht, wird vor Gericht gestellt. Intellektuelle, Künstler, Journalisten, Umweltschützer, Arbeiter und Akademiker werden angeklagt.“
Weiter führte die seit 2016 erneut inhaftierte Politikerin aus, dass in der Türkei 25 Millionen Kurdinnen und Kurden leben, die unter politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Problemen leiden. Die kurdische politische Bewegung stehe bereit, diese Probleme zu lösen: „Diese Bewegung wird jedoch terrorisiert und unterdrückt. Und was geschieht? Die Bewegung wird immer größer. Im Parlament repräsentiert sie sechs Millionen Menschen. Sie ist bereit, die bestehenden Probleme in den Bereichen Demokratie, Frauen und Ökologie zu lösen. Die Antwort darauf lautet: Wenn ihr nicht gehorcht, habt ihr keine Rechte und werdet in Gefängnisse gesteckt, die an Konzentrationslager erinnern.“
Gültan Kışanak, die bereits 1980 nach dem Militärputsch in der Türkei als 19-Jährige der Folter im berüchtigten Gefängnis von Amed widerstand, sagte vor Gericht zum Vorwurf der Terrorpropaganda, dass sie sich nicht den Mund verbieten lassen werde: „Selbstverständlich werde ich mich weiterhin äußern. Dass ich als Politikerin an den Aktivitäten meiner Partei teilnehme, ist keine Straftat, sondern ein in der Verfassung verankertes Recht.“
Die Verhandlung wurde von den HDP-Abgeordneten Leyla Güven und Saliha Aydeniz sowie zahlreichen weiteren Politikerinnen und Politikern beobachtet. Die Staatsanwaltschaft forderte die Aufrechterhaltung des Haftbefehls, das Gericht folgte dem Antrag. Die Verhandlung wurde auf den 9. März 2020 vertagt.