Prozess gegen Kışanak und Tuncel wird neu aufgerollt

Im Juli wurden die hohen Freiheitsstrafen gegen die kurdischen Politikerinnen Sebahat Tuncel und Gültan Kışanak im Revisionsverfahren aufgehoben. Jetzt wird der Prozess neu aufgerollt. Der Prozessauftakt ist am Montag.

Vor einem halben Jahr hob ein türkisches Revisionsgericht das Urteil gegen Sebahat Tuncel und Gültan Kışanak auf. Die beiden kurdischen Politikerinnen wurden Ende 2016 verhaftet und sind im Februar 2019 wegen Terrorismusvorwürfen zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt worden. Wegen „Gründung und Leitung einer Organisation“ sowie „Organisationspropaganda“ wurde die ehemalige Oberbürgermeisterin von Amed (Diyarbakir), Gültan Kışanak, zu 14 Jahren und drei Monaten sowie die DBP-Vorsitzende Sebahat Tuncel zu 15 Jahren Haft verurteilt.

Jetzt wird das Verfahren gegen die Politikerinnen neu aufgerollt. Der Prozessauftakt ist am morgigen Montag an der 1. Großen Strafkammer Malatya (Meletî).  

Wer ist Sebahat Tuncel?

Die Politikerin, Feministin und ehemalige Krankenschwester Sebahat Tuncel wurde im Jahr 2006 aufgrund des Verdachts der PKK-Mitgliedschaft angeklagt und inhaftiert. Ein Jahr zuvor gründete sie mit führenden kurdischen Politiker*innen die Partei der demokratischen Gesellschaft (Demokratik Toplum Partisi, DTP), die sich für die nationale Anerkennung der Kurd*innen und eine friedliche Lösung der kurdischen Frage einsetzte. Die Partei wurde am 11. Dezember 2009 durch Entscheid des Verfassungsgerichts verboten.

Für die Parlamentswahlen 2007 kandidierte die 44-Jährige als unabhängige Kandidatin für die Provinz Istanbul und gewann mit 93.000 Stimmen im dritten Wahlbezirk. Daraufhin wurde sie am 25. Juli 2007 aus der Haft entlassen. Tuncel ist damit die erste Abgeordnete, die aus dem Gefängnis heraus eine Wahl gewann.

Nach dem Verbot der DTP trat Tuncel der Partei des Friedens und der Demokratie (Barış ve Demokrasi Partisi, BDP) bei. Für die Parlamentswahlen im Juni 2011 stellte sie sich als unabhängige Kandidatin wieder für Istanbul auf und wurde wiedergewählt. 2014 wurde die BDP auf dem dritten Parteikongress umbenannt. So entstand die heutige Partei der demokratischen Regionen (Demokratik Bölgeler Partisi, DBP), deren Ko-Vorsitzende Sebahat Tuncel bis vor Kurzem noch war. Anders als zuvor die BDP konzentriert sich die DBP auf ein Engagement auf lokaler Ebene. Die Teilnahme an nationalen Parlamentswahlen übernimmt als Schwesternpartei die HDP. Das erklärte Ziel der DBP ist die Vertretung der Interessen der kurdischen Bevölkerung und eine Dezentralisierung der Türkei.

Wer ist Gültan Kışanak?

Bevor Gültan Kışanak Bürgermeisterin der Stadt Amed wurde, war sie Abgeordnete der BDP im türkischen Parlament und Ko-Vorsitzende der Partei. Im Jahr 1980 wurde sie nach dem Militärputsch vom 12. September als 19-Jährige festgenommen und im berüchtigten Kerker von Amed, der „Hölle Nr. 5“ gefoltert. Nach rund zwei Jahren im Gefängnis studierte Kışanak zunächst Türkisch an der Dicle-Universität in Amed, brach jedoch ab und begann 1986 ein Studium für Journalismus und Öffentlichkeitsarbeit an der Fakultät für Kommunikationswissenschaften der Ege-Universität in Izmir.

Ab 1990 arbeitete sie als Journalistin für verschiedene prokurdische Zeitungen, unter anderem für die Yeni Ülke und Özgür Gündem. Später wurde sie Chefredakteurin von Özgür Gündem in Istanbul. Nach dem Verbot der Zeitung arbeitete sie in leitender Funktion für die Nachfolgezeitung Özgür Ülke. Bis 2002 war sie bei verschiedenen Zeitungen tätig, unter anderem als Kolumnistin für die Yeniden Özgür Gündem.

Bei den Regionalwahlen 2014 wurde die 58-Jährige mit 55,1 Prozent der Stimmen als erste Frau zur Bürgermeisterin von Amed gewählt. Als Bürgermeisterin der kurdischen Großmetropole ließ sie das Gefängnis, in dem sie einst gefoltert wurde, zu einem Museum umbauen.