Ernte unter Extrembedingungen
Während in der Türkei die Inflation weiter steigt und Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze leben, beginnt in den ländlich geprägten Regionen die Saison für eine der härtesten Arbeiten im Land: die Feldarbeit bei bis zu 45 Grad im Schatten. Besonders betroffen sind Frauen, Kinder und junge Menschen, die ohne soziale Absicherung unter extremen Bedingungen schuften – für einen Lohn, der kaum zum Überleben reicht.
In der kurdischen Provinz Amed (tr. Diyarbakır) hat vor allem der Landkreis Xana Axpar (Çınar) eine hohe Zahl an Tagelöhner:innen. Dort beginnt im Sommer die arbeitsintensive Zeit für Baumwolle, Mais und Melonen. Frauen arbeiten in Gruppen zehn Stunden täglich auf den Feldern – oft auch mit kleinen Kindern im Schlepptau. Die Bezahlung liegt bei rund 900 Türkischen Lira pro Tag (ca. 25 Euro), doch ein Teil wird von sogenannten „Çavuş“ – inoffiziellen Vermittlern – einbehalten. Die Entlohnung erfolgt häufig erst zum Ende der Saison, was viele in zusätzliche finanzielle Not bringt.
„Ich habe studiert – und bin doch zurück aufs Feld“
Für Merve Alar, 24, zeigt sich in dieser Realität die Perspektivlosigkeit vieler junger Menschen. Nach ihrem Universitätsabschluss suchte sie vergeblich Arbeit und kehrte schließlich zurück zur Feldarbeit. „Ich habe gehofft, durch Bildung dem Leben auf dem Feld zu entkommen. Aber selbst mit Abschluss gibt es hier keine Jobs“, sagt sie. Mit ihrem Tageslohn wolle sie nun Bücher zur Vorbereitung auf die staatliche Beamtenprüfung (KPSS) kaufen – in der Hoffnung, irgendwann doch eine feste Stelle zu finden.
Alar steht morgens um drei auf, um um fünf Uhr auf dem Feld zu beginnen. „Wir machen nur drei kurze Pausen. Abends bin ich so erschöpft, dass ich ohne Abendessen ins Bett falle“, erzählt sie. Die körperliche Belastung sei enorm, aber die Unsicherheit noch größer.
„Wenn ich nicht arbeite, hungern meine Kinder“
Auch Sagiye Varol, 44, sieht keine Alternative zur Feldarbeit. „Es gibt keine anderen Jobs für uns Frauen“, sagt sie. Mit vier Kindern sei sie dringend auf das Einkommen angewiesen. „Wir können kaum Grundnahrungsmittel kaufen. Wir leben von Schulden“, berichtet sie. Besonders belastend sei die Hitze, die kaum Pausen zulasse.
Kinderarbeit als Notlösung
Mitten unter den arbeitenden Erwachsenen: Sultan Şeftalidalı, 14 Jahre alt. Für sie bedeutet die Sommerpause nicht Erholung, sondern Feldarbeit. „Ich wollte eigentlich spielen oder mich ausruhen. Aber ich muss helfen“, sagt sie. Ihr kleiner Lohn wird für Bücher, Kleidung oder Haushaltsbedarf genutzt – selten bleibt etwas für sie selbst.
Sultan ist kein Einzelfall: Die Zahl der Kinder, die während der Sommermonate auf den Feldern arbeiten, steigt laut Hilfsorganisationen kontinuierlich an – vor allem in ländlichen Regionen, in denen Bildungs- und Beschäftigungsangebote fehlen.
Trotz der Belastung und gesundheitlichen Risiken ist für viele die Saisonarbeit die einzige Möglichkeit, überhaupt ein Einkommen zu erzielen. Gewerkschaften und Menschenrechtsorganisationen kritisieren seit Jahren die prekären Arbeitsbedingungen und fordern mehr Schutz, faire Bezahlung und staatliche Unterstützung – insbesondere für Frauen und Minderjährige. Bisher jedoch blieb strukturelle Hilfe weitgehend aus.