14 Jahre und drei Monate für Kışanak, 15 Jahre für Tuncel
Die kurdischen Politikerinnen Sebahat Tuncel und Gültan Kışanak sind wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung in der Türkei zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt worden.
Die kurdischen Politikerinnen Sebahat Tuncel und Gültan Kışanak sind wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung in der Türkei zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt worden.
Im Oktober 2016 ist die Ko-Bürgermeisterin von Amed (Diyarbakir), Gültan Kışanak, verhaftet worden. Im gleichen Ermittlungsverfahren wurde einen Monat später auch die Ko-Vorsitzende der Partei der Demokratischen Regionen (DBP), Sebahat Tuncel, inhaftiert. Gestern wurde am zwölften Verhandlungstag im Prozess gegen die beiden kurdischen Politikerinnen in Meletî (Malatya) das Urteil gesprochen. Wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und „Terrorpropaganda“ erhielt Gültan Kışanak eine Haftstrafe von 14 Jahren und drei Monaten, Sebahat Tuncel von 15 Jahren.
Gültan Kışanak kritisierte vor Gericht, dass bei den Ermittlungen offizielle Dokumente der Stadtverwaltung zu Papieren einer verbotenen Organisation umgewidmet wurden: „Wenn alle organisatorischen Dokumente für Dienstleistungen als Dokumente einer verbotenen Organisation eingestuft werden, kann man nur den Schluss ziehen, dass diese Organisation gute Arbeit leistet.“ Die abgesetzte Oberbürgermeisterin wies alle Anklagepunkte zurück.
„Ich habe mich auch nicht vor Esat Oktay gebeugt“
Gültan Kışanak ging in ihrer Prozesserklärung auch auf ihre Haftzeit in den 1980er Jahren ein, in der sie zusammen mit der PKK-Mitbegründerin Sakine Cansız im berüchtigten Gefängnis von Amed gegen die Folter Widerstand leistete: „Ich bin mit 19 Jahren ins Gefängnis gekommen und habe mich nicht der Grausamkeit Esat Oktays gebeugt. Weil ich für ihn nicht aufgestanden bin, wurde ich zwei Monate lang in einem zwei Quadratmeter großen Hundezwinger festgehalten. Ich habe die Militärmärsche, zu denen ich gezwungen werden sollte, nicht vorgetragen und ich habe mir keinen militärischen Haarschnitt verpassen lassen, deshalb bin ich gefoltert worden.
Trotz alledem habe ich geglaubt, dass die Grausamkeit eines Tages enden wird. Ich habe mir meine Hoffnung und damit meine geistige Gesundheit bewahrt. Das habe ich noch nie zur Sprache gebracht, aber mir wird jetzt vorgeworfen, was ich erlebt habe. Was hier angeführt wird, kann in keiner Weise als Straftat definiert werden. Ohne eine Aufarbeitung der Grausamkeit des Gefängnisses von Amed kann keines der bestehenden Probleme gelöst werden. Als Bülent Arinç hörte, was ich erlebt habe, sagte er: ‚Wenn ich an der Stelle dieser Frau gewesen wäre, wäre ich in die Berge gegangen.‘ Aber das habe ich nicht getan. Ich habe hier weiter Widerstand geleistet. In meiner Nachbarzelle wurde ein Mann durch Schläge und Folter getötet. Seine Ehefrau war bei mir und wir hörten zusammen seine Schreie. Dieser Staat schuldet mir eine Entschuldigung, aber stattdessen macht er daraus jetzt eine Straftat. Ich werde diesen Tatbestand niemals akzeptieren.“
Wer ist Sebahat Tuncel?
Die Politikerin, Feministin und ehemalige Krankenschwester Sebahat Tuncel wurde im Jahr 2006 aufgrund des Verdachts der PKK-Mitgliedschaft angeklagt und inhaftiert. Ein Jahr zuvor gründete sie mit führenden kurdischen Politiker*innen die Partei der demokratischen Gesellschaft (Demokratik Toplum Partisi, DTP), die sich für die nationale Anerkennung der Kurd*innen und eine friedliche Lösung der kurdischen Frage einsetzte. Die Partei wurde am 11. Dezember 2009 durch Entscheid des Verfassungsgerichts verboten.
Für die Parlamentswahlen 2007 kandidierte die heute 44-Jährige als unabhängige Kandidatin für die Provinz Istanbul und gewann mit 93.000 Stimmen im dritten Wahlbezirk. Daraufhin wurde sie am 25. Juli 2007 aus der Haft entlassen. Tuncel ist damit die erste Abgeordnete, die aus dem Gefängnis heraus eine Wahl gewann.
Nach dem Verbot der DTP trat Tuncel der Partei des Friedens und der Demokratie (Barış ve Demokrasi Partisi, BDP) bei. Für die Parlamentswahlen im Juni 2011 stellte sie sich als unabhängige Kandidatin wieder für Istanbul auf und wurde wiedergewählt. 2014 wurde die BDP auf dem dritten Parteikongress umbenannt. So entstand die heutige Partei der demokratischen Regionen (Demokratik Bölgeler Partisi, DBP), deren Ko-Vorsitzende Sebahat Tuncel ist. Anders als zuvor die BDP konzentriert sich die DBP auf ein Engagement auf lokaler Ebene. Die Teilnahme an nationalen Parlamentswahlen übernimmt als Schwesternpartei die HDP. Das erklärte Ziel der DBP ist die Vertretung der Interessen der kurdischen Bevölkerung und eine Dezentralisierung der Türkei.
Sebahat Tuncel ist am 15. Januar im Gefängnis von Kandira in einen unbefristeten Hungerstreik gegen die Isolation Abdullah Öcalans getreten. Gültan Kışanak hatte zuvor einen zehntägigen Hungerstreik durchgeführt.
Wer ist Gültan Kışanak?
Bevor Gültan Kışanak Bürgermeisterin der Stadt Amed wurde, war sie Abgeordnete der BDP im türkischen Parlament und Ko-Vorsitzende der Partei. Im Jahr 1980 wurde sie nach dem Militärputsch vom 12. September als 19-Jährige festgenommen und im berüchtigten Kerker von Amed, der „Hölle Nr. 5“ gefoltert. Nach rund zwei Jahren im Gefängnis studierte Kışanak zunächst Türkisch an der Dicle-Universität in Amed, brach jedoch ab und begann 1986 ein Studium für Journalismus und Öffentlichkeitsarbeit an der Fakultät für Kommunikationswissenschaften der Ege Üniversitesi in Izmir.
Ab 1990 arbeitete sie als Journalistin für verschiedene prokurdische Zeitungen, unter anderem für die Yeni Ülke und Özgür Gündem. Später wurde sie Chefredakteurin von Özgür Gündem in Istanbul. Nach dem Verbot der Zeitung arbeitete sie in leitender Funktion für die Nachfolgezeitung Özgür Ülke. Bis 2002 war sie bei verschiedenen Zeitungen tätig, unter anderem als Kolumnistin für die Yeniden Özgür Gündem.
Bei den Regionalwahlen 2014 wurde die heute 57-Jährige mit 55,1 Prozent der Stimmen als erste Frau zur Bürgermeisterin von Amed gewählt. Als Bürgermeisterin der kurdischen Großmetropole ließ sie das Gefängnis, in dem sie einst gefoltert wurde, zu einem Museum umbauen.