Gegen die Ende 2016 abgesetzten und inhaftierten ehemaligen Oberbürgermeister*innen der nordkurdischen Großstadt Amed (Diyarbakir), Gültan Kışanak und Fırat Anlı (DBP), ist Anklage wegen „Amtsdelikten“ erhoben worden. Den Politiker*innen wird die Einführung der genderparitätischen Doppelspitze zum Vorwurf gemacht. Auch gegen 63 Stadtratsmitglieder der Partei der demokratischen Regionen (DBP), die im April 2014 für das System des Ko-Vorsitzes im Rathaus gestimmt hatten, wird wegen vermeintlichen Straftaten im Amt ermittelt.
Das System der genderparitätischen Doppelspitze ist eines der Kernprinzipien demokratischer Selbstverwaltung in Nordkurdistan und der Türkei. Im Kampf für Geschlechterbefreiung haben die Demokratischen Partei der Völker (HDP) und ihre Mitgliedsparteien, zu denen auch die DBP gehört, ein Modell eingeführt, in dem alle Vorstandspositionen mit einem Mann und einer Frau besetzt werden.
Das patriarchale AKP-System sieht in dem System der Doppelspitze eine Bedrohung. So hatte das Innenministerium kurz nach dem Inkrafttreten der Regelung angeordnet, die Entscheidung rückgängig zu machen. Es handele sich um eine nicht verfassungsmäßige politische Struktur, die vom Ganzen des Landes abweicht. Da die DBP ihr System in der Stadtverwaltung von Amed dennoch weiterverfolgte, zudem „nicht autorisierte Personen Amtshandlungen ausführten“ (gemeint ist Fırat Anlı), liege der Tatbestand des Amtsmissbrauchs vor.
Für Kışanak und Anlı liegt das geforderte Strafmaß bei bis zu vier Jahren Freiheitsstrafe. Im Fall der angeklagten Mitglieder der Stadtverordnetensammlung fordert die Generalstaatsanwaltschaft Diyarbakir Haftstrafen zwischen sechs Monaten und drei Jahren.
Wer ist Gültan Kışanak?
Bevor Gültan Kışanak Bürgermeisterin der Stadt Amed wurde, war sie Abgeordnete der BDP im türkischen Parlament und Ko-Vorsitzende der Partei. Im Jahr 1980 wurde sie nach dem Militärputsch vom 12. September als 19-Jährige festgenommen und im berüchtigten Kerker von Amed, der „Hölle Nr. 5“ gefoltert. Nach rund zwei Jahren im Gefängnis studierte Kışanak zunächst Türkisch an der Dicle-Universität in Amed, brach jedoch ab und begann 1986 ein Studium für Journalismus und Öffentlichkeitsarbeit an der Fakultät für Kommunikationswissenschaften der Ege-Universität in Izmir.
Ab 1990 arbeitete sie als Journalistin für verschiedene prokurdische Zeitungen, unter anderem für die Yeni Ülke und Özgür Gündem. Später wurde sie Chefredakteurin von Özgür Gündem in Istanbul. Nach dem Verbot der Zeitung arbeitete sie in leitender Funktion für die Nachfolgezeitung Özgür Ülke. Bis 2002 war sie bei verschiedenen Zeitungen tätig, unter anderem als Kolumnistin für die Yeniden Özgür Gündem.
Bei den Regionalwahlen 2014 wurde die 58-Jährige mit 55,1 Prozent der Stimmen als erste Frau zur Bürgermeisterin von Amed gewählt. Als Bürgermeisterin der kurdischen Großmetropole ließ sie das Gefängnis, in dem sie einst gefoltert wurde, zu einem Museum umbauen.