Am heutigen Sonntag wird die Bürgermeisterwahl in Istanbul wiederholt. Nach der knappen Niederlage gegen Ekrem İmamoğlu von der Oppositionspartei CHP bei den Kommunalwahlen am 31. März hatte die oberste Wahlbehörde YSK auf Druck der islamisch-nationalistischen AKP von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan entschieden, dass der Urnengang in der politisch wichtigsten Metropole der Türkei wiederholt werden muss.
Die Erfahrung ‚Wer Istanbul gewinnt, gewinnt auch die Regierung‘ gehört zur politischen Tradition des Landes. Seit 25 Jahren wird Istanbul politisch von islamisch-religiösen Parteien dominiert. Auch Erdoğans Aufstieg begann hier. 1994 wurde er zum Oberbürgermeister der Stadt gewählt und nahm seinen Marsch durch die Institutionen auf. 15 Millionen Menschen – der kurdische Bevölkerungsanteil beträgt mehr als 20 Prozent - leben in der Stadt, die mit Abstand wichtigste Wirtschafts- und Finanzmetropole der Türkei ist. Keiner anderen Provinz stehen jährlich mehr als drei Milliarden Euro zur Verfügung. Ein erheblicher Teil dieser Gelder ging in der Vergangenheit an Bauunternehmer. Neben der Bauwirtschaft sind Erdoğan, seine Familie und die AKP auch mit religiösen Stiftungen verflochten. So flossen einem offiziellen Tätigkeitsbericht der Istanbuler Kommunalverwaltung zufolge allein im vergangenen Jahr etwa 800 Millionen Lira (umgerechnet über 120 Millionen Euro) an Erdoğan-nahe Stiftungen und islamistische Vereine. Ekrem İmamoğlu hatte bereits angekündigt, solche Zahlungen nicht zu genehmigen. Sollte die AKP Istanbul also verlieren, könnte das Machtvakuum in der Millionenmetropole das politische Überleben Erdoğans und seines Clans entscheiden.
Wir haben mit Mustafa Karasu vom Exekutivrat der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) über die Neuwahlen in Istanbul gesprochen. Karasu hob den einzigartigen historischen Background Istanbuls hervor. Mit keiner anderen Stadt sei sie zu vergleichen: „Istanbul ist nicht wie Ankara. Das historische Gedächtnis, die Vielfalt, Tiefe, Kapazitäten und die Eigenschaft der Stadt, Menschen zu stärken, ist anders. Die Menschen in Istanbul und die Gesellschaft haben historische Vorteile. Jede Stadt hat ihre eigene Sprache und Identität, unterschiedliche Charaktere und Eigenschaften. Es gibt Städte, die anderen überlegen sind, all das darf nicht vergessen werden. In dieser Hinsicht ist Istanbul möglicherweise die Stadt in der Türkei, die in Bezug auf Qualität und Werte an der Spitze steht. Sie war Hauptstadt im Römischen Reich und die Hauptstadt der Osmanen. Solch eine Stadt drückt natürlich kulturelle, wirtschaftliche, soziale und politische Macht aus und stärkt die Ökonomie, Kultur und Politik. Die Bevölkerung mag zwar 15 Millionen betragen, allerdings sollte Istanbul als eine einflussreiche und mächtige Stadt mit der Kapazität von 30 Millionen Menschen verstanden werden. Eine Stadt wie diese zu regieren, verleiht jeder Partei Überlegenheit und verschafft Vorteile. Man wird gestärkt und gewinnt an Einfluss. Der Verlust Istanbuls würde bedeuten, die Regierungsgewalt zu verlieren. Mit anderen Worten: Wenn Istanbul verloren ist, ist auch die Fähigkeit, das Land zu regieren, verloren“, sagte Karasu.
Die Demokratische Partei der Völker (HDP) hat bei den Kommunalwahlen am 31. März in Istanbul keine eigenen Kandidaten nominiert und damit zum Sieg über die AKP-MHP-Koalition beigetragen. Sie war mit ihrer Doppelstrategie „In den kurdischen Regionen die Zwangsverwalter und im Westen die AKP stürzen“ in die Wahlen gezogen und unterstützt in Istanbul den CHP-Kandidaten Ekrem İmamoğlu. Karasu glaubt, dass das Potenzial der HDP am Bosporus sehr hoch ist. Schließlich sei Istanbul die ‚größte kurdische Stadt’. „In keiner anderen Stadt leben so viele Kurdinnen und Kurden wie in Istanbul. Sollte die HDP in Istanbul selbst antreten, ist es gut möglich, dass sie das dreifache an Stimmen erhält, die sie bisher in der Millionenmetropole bekommen hat. Die HDP ist das Demokratiebündnis der Türkei. Sie sollte auf alle demokratischen Kräfte zugehen und ihre Stimmen erhalten“, so Karasu.
Auf die Frage, warum es wichtig sei, dass die AKP die Wahl in Istanbul wieder verliert, entgegnete Karasu: „Der kurdische Befreiungskampf wird nicht nur in Kurdistan, sondern auch in den Metropolen der Türkei geführt. Solange den Kurdinnen und Kurden ihre Freiheit jedoch verwehrt wird, hat die Türkei ein Demokratieproblem. Nur der Sieg von demokratischen und freiheitlichen Kräften und die Lösung der kurdischen Frage wird zu einer Lösung der anderen Probleme in der Türkei führen. Die Kurden wollen Demokratie und die Demokratisierung der Türkei.“