Den dritten Weg stärken: Nicht abwarten, aufbauen!

„Für Abdullah Öcalan ist es in der Politik besonders wichtig, nicht auf eine Lösung zu warten, sondern sich zu organisieren, sich weiterzuentwickeln und etwas aufzubauen“, erklären seine Anwälte nach ihrem letzten Besuch auf der Gefängnisinsel Imrali.

Newroz Uysal und Rezan Sarica vom Rechtsbüro Asrin haben nach der Beendigung des monatelangen Hungerstreiks der kurdischen Bewegung am 12. Juni ihren Mandanten Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali besucht und anschließend eine Erklärung zu den Gesprächsinhalten veröffentlicht. Gegenüber der Nachrichtenagentur MA haben sie sich zu weiteren Einzelheiten geäußert. Wir geben das Interview in gekürzter Form wieder.

Wie geht es Ihrem Mandanten Abdullah Öcalan gesundheitlich?

Wie immer ist Herr Öcalan nicht auf Einzeleinheiten zu seinem Gesundheitszustand eingegangen. Unserem Eindruck nach geht es ihm gut, er wirkte robust. Über viele Themen hat er sogar lächelnd gesprochen.

Worum geht es bei der Politik „Leben und leben lassen“, die Öcalan in seiner letzten Botschaft als seine Position genannt hat?

Herr Öcalan hat in unserem Gespräch seine Zufriedenheit darüber zum Ausdruck gebracht, dass die Hungerstreikenden ihre Aktion nach seinem Aufruf beendet haben. Er hat ja auch einen Brief an die Aktivistinnen und Aktivisten geschrieben. Er hat voller Respekt den Menschen gedacht, die während der Aktion ihr Leben verloren haben, und er hat nach dem Gesundheitszustand der anderen gefragt. Erneut hat er seine Erwartung zur Sprache gebracht, dass sie ihn in gutem körperlichem, geistigem und seelischem Zustand weiter begleiten. Bei allen drei Gesprächen hat er von seinem großen Respekt vor dem Willen und der Opferbereitschaft der Aktivistinnen und Aktivisten gesprochen, aber gleichzeitig auch von einer Unzulänglichkeit. „Sie sind in der Lage zu sterben, aber sie verstehen nichts vom Leben und leben lassen. Wir verteidigen das Leben gegen den Tod. Unsere Politik setzt auf das Leben, diese Politik gelingt ihnen nicht“, hat er gesagt.

Über welche politischen und gesellschaftlichen Fragen hat Öcalan bei Ihrem letzten Besuch gesprochen?

Herr Öcalan hat seine Ansichten über viele gesellschaftliche, politische und kulturelle Fragen zur Sprache gebracht. Dabei ging es unter anderem um eine demokratische Politik und die Schwächen der Kommunalverwaltungen, um Frauenmorde und Kinderehen, um die kurdische Gesellschaft, Kultur und Geschichte, um die historischen und aktuellen Probleme in den kurdisch-türkischen Beziehungen sowie die Beziehungen und Widersprüche zwischen Syrien, Nordsyrien und der Türkei.

In Ihrer nach dem letzten Besuch veröffentlichten Erklärung taucht die Formulierung auf, dass Kurden nicht ohne Türken und Türken nicht ohne Kurden existieren können. Diese Feststellung kommt bereits in der Newroz-Deklaration von 2013 vor. Hat sich seitdem etwas an der Haltung Öcalans geändert?

Diese Einstellung findet sich nicht nur in der Deklaration von 2013 wieder, sondern in allen seinen Eingaben, die als Bücher veröffentlicht worden sind. Bei einem vorherigen Gespräch hat er erklärt, dass er sich seit 26 Jahren darum bemüht, die türkisch-kurdischen Beziehungen ihrem historischen Wesen entsprechend auf der Grundlage eines demokratischen und würdevollen Friedens neu zu gestalten.

Damit diese Bemühungen und ihre Notwendigkeit richtig verstanden wird, hat er auf die gesellschaftliche Atmosphäre zu Newroz 2013 verwiesen und die positive Wirkung betont. Er sagt allerdings auch, dass er seine Betrachtungen seitdem weiter vertieft hat. Insbesondere hat er betont, dass er das Auftreten von schwer wieder gutzumachenden Verletzungen in den kurdisch-türkischen Beziehungen zu verhindern versucht. Bei unserem letzten Zusammentreffen hat er gesagt: „Das Türkische wird in Anatolien nicht weiterbestehen, wenn es mit den Kurden in Mesopotamien vorbei ist. Die Existenz und Entwicklung des Kurdischen ist gleichbedeutend mit der Stärkung des Türkischen. Das zeigt die Geschichte, dabei handelt es sich nicht um eine Neuentdeckung unsererseits. Das muss jeder begreifen, sonst kommt es zu großen Verlusten. Ich habe bereits früher die Formulierung ‚Keine Kurden ohne Türken, keine Türken ohne Kurden‘ benutzt. So ist es. Auch heute haben wir die Chance zum Erfolg, wenn wir es so hinnehmen. Ich habe es etliche Male angesprochen und werde es weiter tun. Ich vertraue meinem Geschichtswissen, die Geschichte liegt in ihrer ganzen Realität offen.“

Öcalan hat außerdem davon gesprochen, dass in Form von familiären und Stammesbeziehungen keine richtige Politik möglich ist und eine demokratische Politik wesentlich und konstruktiv ist. Können Sie in diesem Zusammenhang seine Kritik an der Politik in der Türkei erläutern?

Wie wir bereits zu erklären versucht haben, verweist Herr Öcalan bei der Schilderung seiner Beobachtungen und Feststellungen als Lösungsweg immer auf eine demokratische Politik. Er kritisiert jedoch auch, dass die demokratische Politik aufgrund vieler Schwächen keine Lösungen für die bestehenden Probleme produziert. Einer dieser Kritikpunkte betrifft die Zerstörung und Gefahr, die durch die heute auf familiären und Stammesbeziehungen basierende Art und Weise entsteht.

Nach seinen Beobachtungen wird ein wichtiger Teil dieser familiären und Stammesbeziehungen erneut vom System auf bewusste Weise in Kurdistan, in Şirnex (Şırnak) und anderen Städten gefördert. Er geht davon aus, dass ein Teil davon als Projekt im Gegenzug zu der nicht geförderten kurdischen Kultur und Geschichte entstanden ist. Seiner Ansicht nach werden einige Familien und Stämme zusammen mit regionalen Kräften in Form einer Koalition auf wirtschaftlicher und politischer Ebene ähnlich wie das Dorfschützertum gegen die kurdische Gesellschaft vergrößert. Er sagt, dass die Politik diese Situation nicht einmal kritisiert und das kurdische Volk dadurch verliert.

Wovon spricht Öcalan genau, wenn er darauf verweist, dass für eine demokratische Lösung eine Politik der Verhandlungen entwickelt und mit geistiger, politischer und kultureller Kraft zivile Kampfmethoden ausgebaut werden müssen?

Seine Vorstellung von einer Politik des „Leben und leben lassen“ haben wir bereits im Zusammenhang mit den Gefangenen angesprochen. Herr Öcalan hat außerdem von denen gesprochen, die außerhalb der Gefängnisse sind. Für ihn ist es in der Politik besonders wichtig, nicht auf eine Lösung zu warten, sondern sich zu organisieren, sich weiterzuentwickeln und etwas aufzubauen. Vor allem ist es notwendig, im zivilen Bereich zivile Lösungen herzustellen. Auch im letzten Gespräch hat er erneut das Beispiel Gandhi erwähnt und gesagt, dass zivile Aktivitäten von ähnlicher Qualität möglich wären. Es geht um zivile konstruktive Lösungen. Innerhalb des zivilen Bereichs sieht er zivilgesellschaftliche Einrichtungen, Initiativen, Vereine, die Bevölkerung, die HDP. Er hat von der Wichtigkeit gesprochen, dass der zivile Bereich mit einer Politik demokratischer Verhandlungen, also mit Intelligenz, mit ‚soft power‘ gestärkt wird.

Zum Thema Nordsyrien macht Öcalan Vorschläge zu einer verfassungsrechtlichen Garantie und lokaler Demokratie. Gibt es einen Punkt, auf den er hinsichtlich dieser Region besonders eingeht?

Herr Öcalan hat sich auch beim letzten Gespräch zum Thema Syrien und Nordsyrien geäußert. Damit einhergehend hat er zum Thema der Beziehungen zwischen der Türkei und Syrien erklärt, dass die Außen- und Innenpolitik beider Länder inzwischen sehr voneinander abhängen und nicht unabhängig voneinander betrachtet werden können.

Er spricht von der Wichtigkeit und dem Wert der in Nordsyrien entstandenen Demokratieauffassung und Institutionen. Gleichzeitig hält er es für notwendig, auf eine verfassungsrechtliche demokratische Lösung vorbereitet zu sein und Wege zu entwickeln, die auch das syrische Regime überzeugen können. Wenn in Nordsyrien innerhalb der Gesamtheit Syriens Methoden wie Autonomie, Föderation und ähnliches entwickelt werden, ist es seiner Meinung nach wichtig, dass dabei eine politische Denkweise berücksichtigt wird, die ganz Syrien umfasst. Er sagt, dass Rojava zu einer Insel der Freiheit werden kann, auf der die gemeinsamen Werte der gesamten Menschheit gelten.

Öcalan spricht die Notwendigkeit an, für eine Lösung gesellschaftlicher Probleme die demokratischen Kommunalverwaltungen auf der Grundlage von Produktivität, Kreativität und Aufbau zu stärken. Der HDP fällt dabei die Rolle eines demokratischen Katalysators zu. Hat er noch mehr zur HDP gesagt?

Der HDP und einer demokratischen Politik misst er große Bedeutung bei. Er denkt, dass viele Probleme gelöst werden können, wenn als eine Lösungsmethode die Politik ihre Rolle wahrnimmt. Herr Öcalan hat sowohl bei unserem letzten Gespräch über die HDP gesprochen als auch ein Beispiel, von dem er vergangene Woche seinem Bruder Mehmet Öcalan erzählt hat, mit uns geteilt und damit seine eigene Einstellung zu einem Teil der allgemeinen demokratischen Politik dargelegt.

Beim letzten Gespräch hat er die HDP als demokratische Verhandlungspartei bezeichnet, aber auch nachgefragt, was für demokratische Verhandlungen getan wird. Die HDP als ein Demokratiebündnis müsse zunächst parteiintern demokratische Verhandlungen als Methode einführen. Dafür hätte sie freie Bahn, die Politik müsse den dritten Weg stärken, sagte er. In Bezug auf die von der HDP gewonnenen Kommunalverwaltungen fragte er: „Wie wird diese Kommunalverwaltung sein? Wird sie demokratisch sein? Wird es gelingen, für praktische politische Entwicklungen zu sorgen?“ Es müsse Zeit für Produktion, Konstruktion und Aufbau verwendet werden, die HDP habe das Potential, zum Katalysator der Demokratie zu werden.

Sie haben gesagt, dass Öcalan über eine Geschichte, die er seinem Bruder Mehmet Öcalan erzählt hat, Bewertungen angestellt hat. Würden Sie uns davon erzählen?

Herr Öcalan hat lachend ein Beispiel genannt, das er bereits seinem Bruder erzählt hat. Zu seinem Bruder hat er gesagt: „Wenn es um mich geht, ich würde alles tun, was für den Dienst an der Bevölkerung notwendig ist. Wenn mir gesagt wird, ich soll Müll sammeln, würde ich Müll sammeln. Ich würde nach Bağlar gehen und dort Müll einsammeln. Ich würde durch die Straßen laufen und die Menschen grüßen. Ich würde auf die Menschen reagieren, die mich grüßen. Ich würde in der Bevölkerung der Bevölkerung dienen. Was ich auch mache, würde ich für mein Volk tun. Für diese Menschen habe ich alles, auch die kleinste Angelegenheit, mit großer Ernsthaftigkeit getan. Es gibt eine Erinnerung an meinen Vater, die ich nicht vergesse. Wir gingen Unkraut zupfen. Mein Vater war unter einem Baum. Als ich zu ihm kam, drehte er sich zu mir um und sagte überrascht: ‚Du bist aber sorgfältig.‘ Ich schätze auch die geringste Arbeit, wenn sie sauber und ernst ausgeführt wird. Daran können sie sich ein Beispiel nehmen. Zum Beispiel sollte jeder vor seinem Haus saubermachen. Sauberkeit ist wichtig und überall notwendig, für die Straßen, die Städte, die Menschen und die Politik.“ Nachdem er das erzählt hatte, sagte er, dass er sich jeden Morgen beim Aufwachen fragt, was er unter den bestehenden Bedingungen produzieren kann. „Mir gelingt es sogar unter diesen Umständen, nützlich zu sein. Die Straßen von Diyarbakir sind heute voller Leute mit leeren Köpfen. Warum wird mitten in Amed nichts getan?“, sagte er.

Bekanntlich ist einer der Hauptpunkte in Öcalans Paradigma der Frauenbefreiungskampf. Den Problemen von Frauen gilt seine große Aufmerksamkeit. Was hat er zu diesem Thema beim letzten Gespräch gesagt?

Wie Sie schon sagen, das war eines der Themen, auf die Herr Öcalan am meisten eingegangen ist, vor allem auf Frauenmorde und Kinderehen. Er sagte in sehr ausdrücklicher und ablehnender Form, dass er jeden Tag von Frauenmorden liest. In unserer Gegend betrachte ausnahmslos jeder Mann seine Ehefrau als Ware. Das sei als Ergebnis einer 15-tausendjährigen Ordnung in die gesellschaftliche Genetik eingegangen. Frauen würden im modernen Leben mit wenigen billigen Ansprüchen glauben, sie würden eine freie Ehe führen, aber wenn die aus dem Fernsehen oder dem Leben abgeguckten Grenzen überschritten werden, versucht der Mann die Frau, die er als sein Eigentum betrachtet, mit Gewalt einzugrenzen. Er verglich diese Situation mit der Beziehung zwischen Herr und Sklave im alten Rom. Er sagte, dass die Herren in Rom das Recht hatten, ihre Sklaven zu töten, und als der Herr seinen Sklaven schlug, sagte dieser: ‚Tu das nicht, ich werde dir nichts mehr nützen.‘ Die Situation ist für alle Frauen mehr oder weniger gleich. Seit dem Neolithikum ist die Versklavung der Frau eine absolute Versklavung, erklärte er.

Weiter sagte er: „Keine Frau sollte denken, dass sie nicht davon betroffen ist. Was euren Geschlechtsgenossinnen angetan wird, gilt euch allen. Ich habe bereits das Beispiel Özgecan genannt. Sie ist von dieser Mentalität getötet und vergewaltigt worden. Das hat noch nicht ausgereicht, ihr wurde der Arm gebrochen, auch das reichte nicht, ihr wurde ein Auge ausgerissen, und zum Schluss wurde sie verbrannt und ermordet. Das hat alles stattgefunden. Im Allgemeinen findet so etwas innerhalb der Familie statt. Es zeigt, wohin die Gesellschaft gekommen ist. Wer beschäftigt sich mit diesen Dingen? Es gibt Frauenmorde, es gibt gesellschaftliche Probleme, es gibt wirtschaftliche Probleme, aber es gibt keine Politik, die Lösungen dafür erarbeitet. Es gibt niemanden, der sich damit auseinandersetzt. Es wird keine Politik gemacht. Dann gibt es noch die Angelegenheit der Eheschließungen im Kindesalter. Jedes Problem hat eine eigene Bedeutung, aber allein für diese Kinder würde ich zehn Revolutionen machen.“