Verteidigerteam berichtet von Gespräch mit Abdullah Öcalan
Das Rechtsbüro Asrin hat eine Erklärung zu dem jüngsten Besuch bei Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali abgegeben.
Das Rechtsbüro Asrin hat eine Erklärung zu dem jüngsten Besuch bei Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali abgegeben.
Das Verteidigerteam des kurdischen Vordenkers Abdullah Öcalan hat vor zwei Tagen seinen Mandanten auf der Gefängnisinsel Imrali besucht. Heute hat das Rechtsbüro Asrin, das Öcalan seit seiner Verhaftung vor zwanzig Jahren vertritt, eine Erklärung zu den Inhalten des Gesprächs abgegeben.
In der Erklärung heißt es:
„Als Rechtsbüro Asrin haben wir am Mittwoch, dem 12. Juni, im Rahmen seiner gesetzlichen Rechte ein Gespräch mit unserem Mandanten, Herrn Abdullah Öcalan, im Gefängnis der Insel Imrali geführt.
In diesem Gespräch hat Herr Öcalan insbesondere den Aktivistinnen und Aktivisten im Hungerstreik und Todesfasten, die ihre Aktion auf seinen Aufruf abgeschlossen haben, seinen Dank und seine Grüße ausrichten lassen. Er hat einen Dankesbrief mit uns geteilt, den er zur Weitergabe an sie geschrieben hat. Herr Öcalan findet auch die Haltung aller Institutionen und Einzelpersonen, die in dieser Zeit Stellung gezeigt haben, sehr wertvoll. Auch ihnen übermittelt er seine Grüße und seinen Dank. Die Botschaft, die Herr Öcalan an die Aktivistinnen und Aktivisten geschrieben hat, fügen wir in der Anlage bei.
Bei dem Gespräch mit Herrn Öcalan standen zusammengefasst folgende Punkte im Vordergrund:
Er hat erneut betont, dass Streiks möglich sind, aber nicht als Hauptkampfmethode eingesetzt werden sollen. Seine eigene Position bezeichnet er als Politik, die das Leben gegen den Tod verteidigt. Wesentlich sei der Kampf um das „Leben und leben lassen“.
Er nannte das Beispiel von Mansur Halladsch, der trotz seines tragischen Tods nicht von seiner Suche nach Wahrheit abgelassen habe, und betonte den Wert, den die Wahrheit für das Leben hat. Trotz der Bedingungen, in denen er sich befinde, werde er niemals seine Suche nach Gerechtigkeit, Freiheit und Wahrheit aufgeben, erklärte er.
Wie bei jeder Gelegenheit hat Herr Öcalan auch bei diesem Treffen seine Beobachtungen zu politischen und gesellschaftlichen Problemen sowie seine Lösungsvorschläge zur Sprache gebracht. Erneut haben wir seine beharrliche Position hinsichtlich einer demokratischen politischen Lösung auf der Grundlage eines würdevollen Friedens gesehen.
Als historischen Indikator hat er mitgeteilt, dass Kurden ohne Türken und Türken ohne Kurden nicht existieren können und dass das Türkische in Anatolien nicht weiterbestehen wird, wenn es mit den Kurden in Mesopotamien vorbei ist. Die Existenz und Entwicklung des Kurdischen sei gleichbedeutend mit der Stärkung des Türkischen, dieser Realität entsprechend müsse gehandelt werden, hat er betont. Dieses Zusammensein könne ein Leben in Demokratie und Frieden für die Völker des gesamten Mittleren Ostens einleiten.
Im Zusammenhang mit einer verfassungsrechtlichen Lösung und gesetzlichen Änderungen gibt Herr Öcalan einer demokratischen Lösung den Vorzug. Die dafür notwendige Denkweise und ein demokratischer Wandel lassen sich nur mit der Beteiligung der gesamten Gesellschaft gewährleisten, teilt er mit.
Weiter hat er erklärt, dass er in der bestehenden Art und Weise der Politik ein ideologisches und theoretisches Vakuum sieht. Richtige Politik sei über familiäre oder Stammesbindungen nicht machbar, die demokratische Politik sei wesentlich und lösungsorientiert.
Im Zusammenhang mit seiner früheren Bezugnahme auf Gandhi brachte er die Notwendigkeit ziviler, kreativer Lösungsansätze zur Sprache. Er verwies auf den Bedarf nach einer Entwicklung ziviler Kampfmethoden mit einer demokratischen Verhandlungspolitik sowie geistiger, politischer und kultureller Stärke und sagte, dass damit die Grundlage für eine demokratische Lösung gelegt werden kann.
Zum Thema Syrien hat er auf die Bedeutung eines politischen Verständnisses hingewiesen, das die Stärke erreicht, die Gesamtheit Syriens zu vertreten. Er hat den zuvor bereits von ihm angesprochenen Vorschlag zu einer verfassungsrechtlich garantierten regionalen Demokratie betont. Die Innen- und Außenpolitik der Türkei und Syriens sind voneinander abhängig und können laut Herrn Öcalan nicht unabhängig betrachtet werden.
Weiter hat er sich zum Frauenbefreiungskampf und zu seinen gesellschaftlichen Beobachtungen hinsichtlich des Mordes an Özgecan [Aslan, 2015 in Mersin ermordete Studentin, Red.], der Problematik der Kinderbräute und der Beziehungen zwischen Frau und Mann geäußert. Er hat unterstrichen, dass die Versklavung der Frau, die seit dem Neolithikum, seit 15.000 Jahren eine absolute Versklavungsform ist, sich auf die gesellschaftliche Genetik ausgewirkt hat. Die Massaker an Frauen seien Produkt derselben Mentalität, daher müssten Frauen jeden Angriff auf ihre Geschlechtsgenossinnen als Angriff auf sich selbst auffassen und in diesem Bewusstsein handeln. Weiter sagte er, dass die Existenz von Frauenmorden und jeder einzelnen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und soziologischen Frage ein Revolutionsthema für sich ist. Allein die Existenz von Kinderbräuten betrachtet er als Grund für zehn Revolutionen. Der Mangel an einer Politik, die eine Lösung für diese Probleme darstellen könnte, war ein wesentlicher Kritikpunkt.
Herr Öcalan hat zum Thema Lösung für gesellschaftliche Probleme den Bedarf nach einer Entwicklung der demokratischen kommunalen Verwaltungen auf der Basis von Produktivität, Kreativität und Aufbau zur Sprache gebracht und die Notwendigkeit betont, dass die HDP bei diesen Themen die Rolle eine Katalysators der Demokratie spielt.
Zusätzlich hat er sich zu einigen Büchern und Autor*innen geäußert und erklärt, dass er den Sozialismus als Grundlage betrachtet, gegen den Dogmatismus den Aufbau entwickelt und in diesem Sinne gegen realsozialistische Auffassungen den Blickwinkel des Mittleren Ostens als Lösungsfokus ansieht.“
Botschaft an die Hungerstreikenden
Liebe Weggefährten,
Ich betrachte es als eine Haltung von historischer Bedeutung und als hohen Wert an sich, dass Ihr Euren Hungerstreik und Euer Todesfasten auf meinen Vorschlag hin beendet habt. Ich danke Euch dafür.
Ich wünsche mir, dass insbesondere diejenigen, die diese Zeit am tiefsten erfahren haben, sich körperlich, geistig und seelisch sorgfältig um sich kümmern. Auf der Basis der Lektionen, die aus dem notwendigen Kritik- und Selbstkritikprozess hervorgehen werden, wünsche ich viel Erfolg.
Ich teile ausdrücklich mit, dass diese Haltung, die aus einer persönlichen Initiative hervorgegangen ist, nicht als staatsfokussierte Haltung oder Zugeständnis bewertet werden kann. Basierend auf meiner Hoffnung und Intuition bewahre ich meinen Glauben daran, dass ein positives Ergebnis daraus entstehen wird. Ich wünsche mir, dass Ihr Euch ab jetzt auf der Grundlage einer Philosophie der körperlichen, seelischen und geistigen Existenz weiterentwickelt, und sende Euch meine Grüße und meine andauernde Liebe.
Abdullah Öcalan
12. Juni 2019
Gefängnis Imralı / Bursa