Vier Wochen vor den Präsidentschafts-und Parlamentswahlen in der Türkei hat sich die türkische Justiz einen weiteren Schlag im politischen Vernichtungsfeldzug gegen die kurdischen Demokratiekräfte geleistet. Im sogenannten KCK-Verfahren bestätigte das regionale Berufungsgericht von Antep am Freitag 89 Urteile des 2. Schwurgerichts von Diyarbakir für besonders schwere Straftaten, das zuvor 154 Personen, darunter kurdische Parlamentsabgeordnete, Jurist*innen, Bürgermeister*innen und Menschenrechtler*innen zu hohen Haftstrafen verurteilt hatte. Das Resultat: Fast 1.000 Jahre Haft.
Zum Hintergrund: Das KCK-Hauptverfahren geht zurück auf eine eingeleitete Untersuchung der Staatsanwaltschaft aus dem Jahr 2007. Am 14. April 2009, also einen Tag, nachdem im Rahmen von Lösungsverhandlungen in der kurdischen Frage ein Waffenstillstand erklärt worden war, wurde diese Untersuchung mit einer weiteren staatsanwaltschaftlichen Ermittlung zusammengelegt und dutzende Menschen wurden festgenommen. Parallel dazu stellte die Partei für eine Demokratische Gesellschaft (DTP) bzw. nach deren Verbot die Partei für Frieden und Demokratie (BDP) nach den Kommunalwahlen im April 2009 in den kurdischen Provinzen der Türkei in 99 Kommunen (zuvor lediglich in 58) die Bürgermeister*innen bzw. Stadtverwaltungen. Die DTP erreichte bei diesen Wahlen zwischen mehr als 65 Prozent der Stimmen zum Beispiel in Amed (Diyarbakir) bis hin zu mehr als 90 Prozent in Colemêrg (Hakkari). Der 14. April 2009 markiert somit den Beginn von unzähligen Festnahmewellen, die daraufhin unter dem Label „KCK-Operationen“ folgen sollten. Den Beschuldigten wirft die türkische Justiz „Mitgliedschaft in einer verbotenen Organisation oder deren Unterstützung“ sowie die „Gefährdung der nationalen Einheit“ vor.
Gericht ließ Anklage zu, ohne sie gelesen zu haben
Şinasi Tur, Rechtsanwalt und Angeklagter im KCK-Verfahren, gab zu dem Prozess folgendes an: „Im Ergebnis wurden rund 10.000 kurdische Aktivist*innen verhaftet. Die Untersuchungsakten der Festgenommenen wurden von juristischer Stelle in Sammelanklagen zusammengefasst. Das Resultat war im Jahr 2010, also drei Jahre nach Einleitung der ersten Untersuchungen, ein Aktenberg. Die Anklageschrift umfasste letztlich 7.500 Seiten, die Untersuchungsakten gar rund 135.000 Seiten. Das Gericht „überprüfte“ schließlich binnen elf Tagen diese Akten und ließ die Anklage zu. Die Anwält*innen der Angeklagten haben später ausgerechnet, dass allein für das Umblättern der Seiten in den Akten eine Zeit von 37,5 Stunden, also fünf Arbeitstage, benötigt wird. Folglich hat das Gericht die Anklage zugelassen, ohne die Akten gelesen zu haben. Die Staatsanwaltschaft meisterte es in ihrer Anklageschrift, voneinander völlig unabhängige Personen und deren Arbeit (angeklagt wurden 23 ehemalige und amtierende Bürgermeister, 6 Anwält*innen, dutzende Parteivorstandsmitglieder, Menschenrechtler, Soziolog*innen u. v. m.) als Tätigkeit für ein und dieselbe (illegale) Organisation darzustellen. Und hierfür wurden alle möglichen irrelevanten und zusammenhanglosen Informationen in die Untersuchungsakten eingespeist. Das Ergebnis war eine Zusammenstellung von Informationen, die weder einen richtigen Anfang noch einen sinnvollen Schluss hatten. Rechtlich betrachtet hatten diese Informationen keinerlei Beweiskraft. Das wurde unzählige Male während des Prozesses zum Ausdruck gebracht. Doch auch wenn in dem über mehrere Jahre andauernden Gerichtsprozess mehrfach Richter ausgetauscht wurden, sind die Anträge der Verteidigung zu keinem Zeitpunkt des Verfahrens akzeptiert worden. Und das, obwohl selbst die dokumentierten Informationen durch gänzlich illegale Methoden wie rechtswidrige Durchsuchungen, Telefonabhörmaßnahmen und Denunziation zusammengetragen wurden. So gut wie keine von Strafrecht und Strafprozessordnung festgeschriebenen Prozessstandards wurden in diesem Prozess eingehalten. Doch die Beschwerden, die diesbezüglich durch Anwälte vorgebracht wurden, mündeten letztlich lediglich in Disziplinarverfahren gegen ihre eigene Person. Die Richter des Verfahrens, das übrigens an einem Gericht mit Sonderbefugnissen verhandelt wurde, sind vielfach ausgewechselt worden, was daran lag, dass diesem Verfahren eine besondere Bedeutung beigemessen wurde und das Gericht unter großem Druck stand. Denn die politisch Verantwortlichen mischten sich offenkundig in den Prozess ein, was sich an zahlreichen Beispielen festmachen lässt. So erklärte beispielsweise der türkische Regierungssprecher im Jahr 2014, als die Verhandlungen über eine Lösung der kurdischen Frage noch anhielten: „Solange die PKK ihre Waffen nicht niederlegt, wird kein einziger KCK-Gefangener aus der Haft entlassen.“ Allein aus diesem Statement wurde deutlich, dass die Angeklagten vom Staat als politische Geiseln festgehalten werden.“
Urteil: 999 Jahre, einen Monat und 29 Tage Haft für 89 Personen
Das regionale Berufungsgericht von Antep hat am Freitag die Urteile des 2. Schwurgerichts von Diyarbakir folgendermaßen bestätigt:
Kamuran Yüksek, Mehmet Taş, Erdem Kızılkaya, Hüseyin Yılmaz, Salih Akdoğan, Turan Genç, Senanik Öner, Kemal Aktaş, Çimen Işık, Zöhre Bozacı, Mehmet Nimet Sevim, Lütfi Dağ, Bayram Altun, Ahmet Birsin und Mehmet Akın wurden zu jeweils 21 Jahren Gefängnis verurteilt.
Jeweils 18 Jahre Haft wurde in den Fällen von Ercan Sezgin, Şinasi Tur, Ahmet Makas, Mazlum Tekdağ, Mükail Karakuş, Ümit Aydın, Seda Akbaş Can, Ali Şimşek, Necdet Atalay, Abdullah Demirbaş, Olcay Kanlıbaş, Tuncay Korkmaz, Tayip Temel und Ercan Akyol bestätigt.
Neun Jahre Haft rechtfertigte das Gericht für folgende Personen: Hasan Hüseyin Ebem, Abbas Çelik, Zülküf Karatekin, Nadir Bingöl, Ahmet Erdem, Cibrahil Kurt, Yurdusev Özsökmenler, Mehmet Hatip Dicle, Nihayet Taşdemir, Pınar Işık, Elif Kaya, Yüksel Baran, Pelgüzar Kaygısız, Pero Dündar, Sara Aktaş, Zahide Besi, Musa Farisoğulları, Adil Erkek, Mahmut Okkan und Burhan Karakoç.
Ebenfalls bestätigte das Regionalgericht die verhängten Haftstrafen von jeweils sechs Jahren und drei Monaten gegen Demir Çelik, Mehmet Tarih, Hasan Fırat Üner, Hasan İraz, Celal Yoldaş, Ahmet Ertak, Fırat Anlı, Selim Sadak, Hüseyin Kalkan, Songül Erol Abdil, Etem Şahin, Emrullah Cin, Fikret Kaya, Aydın Budak, Leyla Güven, Gülcan Şimşek, Nuran Atlı Söyler, Abdullah Akengin, Şeyhmus Bayhan, Ahmet Zirek, Engin Kotay, Kerem Duruk, Esma Güler, Özlem Yasak, Rojda Balkaş Akyüz, Mesut Çetin, Ramazan Ödemiş, Ramazan Deve, Muharrem Erbey, Tuncay Ok, Ahmet İlhan und Mustafa Doğru.
Die Politikerin Zübeyde Zümrüt soll für fünf Jahre ins Gefängnis, Mehmet Güzel und Mehmet Aksünger jeweils für vier Jahre, acht Monate und sieben Tage, Abdurrahim Tanrıverdi, Mustafa Ocaklık und Osman Ocaklık sowie Nazim Çağlak und Türki Gültekin sollen jeweils sechs Jahre und neun Monate in Geiselhaft. Auch die gegen Murat Tuğrul verhängte Strafe von fünf Jahren, sieben Monaten und 15 Tagen wurde bestätigt. Somit sollen 89 Medienschaffende, Menschenrechtsaktivist*innen, vom kurdischen Volk gewählte und staatlich abgesetzte Bürgermeister*innen, Rechtsanwält*innen, Soziologen und Journalist*innen für insgesamt 999 Jahre, einen Monat und 29 Tage ins Gefängnis.
Unter den Verurteilten befinden sich auch vier HDP-Kandidat*innen für die Parlamentswahlen am 24. Juni. Pero Dündar, Leyla Güven, Ebru Günay und Musa Farisoğulları werden somit nicht zu den Wahlen antreten können.