Die Revolution von Rojava trat vor sechs Jahren mit dem großen Widerstand in Kobanê auf die Weltbühne. Dieser Widerstand ist revolutionär, freiwillig, libertär, jung, weiblich und der Vorbote einer neuen Zivilisation. Der eigentliche Kampf gegen den IS begann mit dem Kampf um Kobanê. Die Flucht vor dem IS endete im Stadtzentrum von Kobanê. Dort hat der Lauf der Geschichte eine Kehrtwendung vollzogen. Die Stärke dieses Widerstands war, dass sein Horizont nicht durch nationale Selbstsucht begrenzt war. Es war der gemeinsame Widerstand aller Völker Nordsyriens.
Wir haben gemeinsam gesehen, wozu der menschliche Wille fähig sein kann, wenn er sich von seinen Ketten löst und frei wird. Erst der große Widerstand in Şengal und dann in Kobanê hat gezeigt, dass das, was unmöglich erscheint, real sein kann. Mit dem großen Sieg in Raqqa ist praktisch bewiesen worden, dass der IS dort zerstört wird, wo die Revolution dominiert. Ein Volk, das zum Nichts verurteilt sein soll, wurde zum Vorläufer der Renaissance des Säkularismus und der Demokratie. Der dafür gezahlte Preis hat keine Begrenzung oder Berechnung: Mehr als zehntausend Menschenleben.
Der Kobanê-Widerstand war nicht auf sich selbst beschränkt. Die ersten Früchte gab es in der Türkei. Er ist auch zum Zement eines demokratischen Bündnisses gegen die IS-Kollaborateure AKP und Erdogan geworden. In einer Rebellion der Würde gegen Erdogan, der die Belagerung von Kobanê durch den IS wie eine gute Nachricht begrüßte, vereinigten sich bei den Wahlen im Juni 2015 Türken und Kurden, Aleviten und Sunniten um die HDP. Das störte das Gleichgewicht des Regimes und löste trotz Unterdrückung und Gewalt die Entstehung eines dritten Wegs aus, in dessen Zentrum das kurdische Volk als unzerstörbare Festung stand. Auch wir sind ein Produkt der Revolution von Rojava.
Der revolutionäre Durchbruch in Rojava, Nordsyrien, breitete sich beginnend mit den vier Teilen Kurdistans von der Türkei über den Nordirak in der ganzen Welt aus. Die neuen Lebensformen, die Selbstverwaltung, die neuen sozialen Beziehungen und die neue Welle der Freiheit ermutigen die Völker der Region, ihre eigenen Revolutionen zu verwirklichen. Die Gedanken und Vorschläge von Abdullah Öcalan, der intellektuellen Triebkraft dieser Revolution, finden eine Entgegnung im Bereich zeitgenössischer sozialer Ideen von Großbritannien bis Argentinien, von Kasachstan bis Südafrika.
Aus den gleichen Gründen scheint die Rojava-Revolution das größte Hindernis für die Rückkehr zum Vorkriegs-Status-Quo in Ankara, Bagdad, Teheran und Damaskus zu sein. Das strategische Ziel der Invasionen in Efrîn und Serêkaniyê, die Russland und die USA mit ihrer Zustimmung oder ihrem Schweigen initiierten, und der Errichtung dauerhafter türkischer Militärbasen in Südkurdistan ist es, das in Rojava entfachte revolutionäre Feuer zu löschen. Ziel ist es, Kurdistan erneut zu kolonisieren. Frauen sollen wieder als Sklavinnen des Mannes in der Küche und im Harem eingesperrt werden. Es geht um Rassismus und Sektierertum, um ein Zurück zum politischen Islam und Faschismus und die Wiederbelebung des Kolonialismus. Diesen Bedrohungen ist die Revolution von Rojava ausgesetzt. Aus diesem Grund sind unsere Herzen und Gedanken mehr denn je bei Rojava.
Rojava ist eine Quelle der Motivation für die Wiedergeburt des Internationalismus. Während das Stereotyp, dass Befreiungsideologien immer aus dem „Westen" kommen, ein Ende findet, bemühen sich Tausende „westliche" Revolutionärinnen und Revolutionäre der neuen Generation aufrichtig, ihre Inspiration aus der Rojava-Revolution in das Leben und die Kämpfe ihrer Gesellschaften einfließen zu lassen. Auch die weltweite Mobilisierung für die Freiheit Abdullah Öcalans wird in den Händen dieser neuen Generation immer stärker.
Die Herzen der Staaten schlagen jedoch nicht mit den Herzen der Völker und Revolutionäre. Die Rojava-Revolution bot die wichtigste Gelegenheit, den syrischen Bürgerkrieg zu beenden, indem der IS aus der Geschichte verbannt wurde. Die europäischen Länder und die USA erkennen die Autonomieverwaltung von Nord- und Ostsyrien jedoch nicht an. Rojava ist von internationalen Foren ausgeschlossen, in denen die Zukunft Syriens bestimmt wird. Die Verbote, die der PKK und Öcalan im Klima des Kalten Krieges unter dem Druck von Ankara auferlegt wurden, gelten als Rechtfertigung für die Kriminalisierung der Rojava-Revolution.
Diese moralische und politische Schwäche der internationalen Gemeinschaft ist die wichtigste Kraftquelle des Erdogan-Regimes und des IS. Wann immer Trump und Putin gezwungen sind, sich zwischen Erdogan und Rojava zu entscheiden, sind ihre Prinzipien nicht Freiheit und Säkularismus. Ihre kommerziellen, industriellen und militärischen Interessen entscheiden sich letztendlich für Erdogan. Sie haben den Kampf gegen den IS mit ihren eigenen Händen untergraben und Syrien noch tiefer in eine Sackgasse getrieben. In diesem Klima der Ausweglosigkeit spricht Erdogan jetzt von einer Invasion in Rojava und zielt dabei vor allem auf Kobanê ab.
Ich möchte alle europäischen Länder, insbesondere Deutschland, fragen: Werden Sie zu Erdoğans dritter Invasion in Rojava schweigen, indem Sie eine dschihadistische Armee mit Panzern, Granaten und Gewehren ausrüsten? Ist Ihnen nicht klar, dass Erdogan Sie in einen bedrohlichen Deal hineinzieht, indem er das IS-Gemetzel in Frankreich gleichzeitig mit den Invasionsplänen von Kobanê auf die Tagesordnung setzt? Werden Sie Erdogans Handel akzeptieren, um IS-Mörder davon abzuhalten, Menschen in der Mitte Europas zu erwürgen, und dafür eine Eintrittskarte für Kobanê zu erhalten?
Die wichtigste Aufgabe der demokratischen, libertären und selbstverwalteten Kräfte Europas und Deutschlands in diesem Jahr besteht darin, ihre Regierungen unter Druck zu setzen, aktiv gegen Ankaras Invasionsversuche gegen Kobanê vorzugehen. Kobanê ist bedroht. Wenn Kobanê in die Hände von Erdogan fällt, fällt die Stadt in die Hände des IS und der Al-Nusra-Front. Ein Blick auf Efrîn zeigt, was dann in Kobanê passieren wird. Der Weg, mit dem IS-Terrorismus umzugehen, besteht nicht darin, Erdogans Rücken zu tätscheln, sondern Rojava anzuerkennen und die islamistische Gewalt dort zu beenden, wo sie ihre Macht bezieht. Nur die Revolution von Rojava kann dies sicherstellen.
Ich fordere alle auf, die internationalistische Solidarität angesichts der Invasionsdrohungen gegen Kobanê zu stärken und die Regierungen der NATO- und EU-Länder daran zu hindern, grünes Licht für Ankaras Invasionspläne gegen Kobanê sowie gegen Nord- und Ostsyrien im Allgemeinen zu geben. Dies können wir mit internationaler Solidarität erreichen. Wir haben es einmal gemacht, wir können es zwei, drei und mehr Mal machen. Es lebe die internationale Solidarität. Es lebe der Internationalismus.
Der Artikel ist die leicht gekürzte Version einer Rede von Ertuğrul Kürkçü auf einer Kundgebung am Welt-Kobanê-Tag, dem 1. November 2020, in Frankfurt a.M.
Der Sozialist, Journalist, Schriftsteller und Politiker Ertuğrul Kürkçü ist Ehrenvorsitzender der HDP, deren Ko-Vorsitz er zwischen 2013 und 2014 bekleidete. Von 2011 bis 2018 war er Abgeordneter in der Nationalversammlung der Türkei. Voher war er ein Aktivist der 68er-Bewegung und Mitbegründer der marxistisch-leninistischen Volksbefreiungspartei-Front der Türkei (THKP-C). Am 26. März 1972 entführten Mitglieder der THKP-C zwei britische und einen kanadischen Techniker einer Radarstation in Ünye am Schwarzen Meer. Mit der Aktion beabsichtigten sie, Deniz Gezmiş, Hüseyin İnan und Yusuf Aslan, die als Führer der THKO zum Tode verurteilt worden waren, freizupressen. Vier Tage später wurden Kürkçü und seine Genossen von der türkischen Jandarma im Dorf Kızıldere in der Provinz Tokat gestellt. Alle außer Kürkçü wurden getötet. Ein Sondergericht verurteilte ihn daraufhin zum Tode, die Strafe wurde jedoch 1974 in eine 30-jährige Haftstrafe umgewandelt. 1986 wurde er nach 14 Jahren aus dem Gefängnis entlassen. Nach seiner Zeit in Haft wurde Kürkçü schriftstellerisch und politisch wieder aktiv. Unter anderem ist er Übersetzer und Verleger der Biografie von Karl Marx und war Herausgeber der „Enzyklopädie des Sozialismus und der gesellschaftlichen Kämpfe“. Im März 1997 wurde er wegen der Übersetzung eines Berichts von Human Rights Watch zu einer Gefängnisstrafe von zehn Monaten verurteilt. Kürkçü ging vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und gewann eine Entschädigung.