„Kobanê-Verfahren“: Internationale Prozessbeobachtung in Ankara

Elf ausländische Delegationen werden am Montag den Prozessauftakt im sogenannten „Kobanê-Verfahren“ in Ankara beobachten. Über 1.200 Anwältinnen und Anwälte wollen die 108 Angeklagten verteidigen.

Am Montag findet vor der 22. Strafkammer des Schwurgerichts in Ankara der Prozessauftakt im sogenannten „Kobanê-Verfahren“ gegen 108 Politikerinnen und Politiker statt. Der Großteil der Angeklagten kommt aus der Demokratischen Partei der Völker (HDP), darunter sind auch die ehemaligen Parteivorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ.

Der Prozess wird im In- und Ausland als eindeutig politisch motiviertes Verfahren zur Ausschaltung der Opposition eingestuft. Elf Delegationen aus dem europäischen Ausland wollen die Verhandlung am Montag beobachten: Die Sozialdemokratische Partei Schwedens und die Demokratische Partei Italiens in der Fraktion der Sozialisten und Demokraten des Europäischen Parlaments, die Freie Europäische Allianz des Europäischen Parlaments, die Französische Partei der Solidarität der Völker und Regionen in der Fraktion der Grünen, der Nationale Block Galiziens (BNG) als Teil der Progressiven Internationalen, die griechische Partei MeRA25 und die polnische Linkspartei, die französische Linkspartei, die Katalanische Republikanische Linkspartei, die Partei der Volksunion Kataloniens (CUP) und die Vereinigte Baskische Partei.

1.200 Rechtsanwälte bewerben sich für die Verteidigung

Bis zu 1.200 Anwältinnen und Anwälte haben dem Gericht ihre Lizenzen vorgelegt, um an der Verteidigung teilzunehmen. Zahlreiche weitere Anwaltsvereinigungen werden die Verhandlung beobachten, darunter die Juristen für Gerechtigkeit, Anwaltssolidarität, Zeitgenössischer Anwaltsverein, Juristen für Demokratie und der Anwaltsverein für Freiheit (ÖHD). Darüber hinaus werden die Anwaltskammern von Izmir, Diyarbakır (Amed), Van (Wan), Şırnak (Şirnex), Urfa (Riha), Tunceli (Dersim), Hakkari (Colemêrg), Ağrı (Agirî), Bursa, Mardin (Mêrdîn) den Fall beobachten.

Auch Oppositionsparteien und Gewerkschaften, Menschenrechtsorganisationen und Vertreter*innen von zivilgesellschaftlichen Organisationen werden teilnehmen. Am ersten Prozesstag werden die HDP-Vorsitzenden und die Fraktion anwesend sein, an den folgenden Tagen wird die Mehrheit der HDP-Fraktion an der Verhandlung teilnehmen.

Hintergrund: Angeklagt wegen Kobanê-Solidarität

Angeklagt sind in dem Verfahren 108 Persönlichkeiten aus Politik, Zivilgesellschaft und der kurdischen Befreiungsbewegung, die im Zusammenhang mit den Protesten während des IS-Angriffs auf Kobanê im Oktober 2014 terroristischer Straftaten und des Mordes in dutzenden Fällen beschuldigt werden. Allein für den ehemaligen HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş fordert die Generalstaatsanwaltschaft bis zu 15.000 utopische Jahre Haft. 28 der Angeklagten sind inhaftiert.

Auslöser des Kobanê-Verfahrens ist ein Beitrag des HDP-Exekutivrats im Kurznachrichtendienst Twitter, der während einer Dringlichkeitssitzung verfasst worden war und neben Solidarität mit der von der Terrormiliz „Islamischer Staat” (IS) eingekesselten Stadt in Westkurdistan auch zu einem unbefristeten Protest gegen die türkische Regierung aufrief, da diese ihre Unterstützung für den IS nicht beendete: „Dringender Aufruf an unsere Völker […]! In Kobanê ist die Lage äußerst kritisch. Wir rufen unsere Völker dazu auf, auf die Straße zu gehen und diejenigen zu unterstützen, die bereits auf der Straße sind, um gegen die Angriffe des IS und gegen das Embargo der AKP-Regierung zu protestieren.”

Dutzende Tote, hunderte Verletzte

Im Zuge dessen kam es in vielen Städten zu regelrechten Straßenschlachten zwischen Sicherheitskräften sowie paramilitärischen Verbänden wie Dorfschützern und Anhängern der radikalislamistischen türkisch-kurdischen Hisbollah (Hizbullah) und den Demonstrierenden. Die Zahl der dabei getöteten Menschen, bei denen es sich größtenteils um Teilnehmende des Aufstands handelte, schwankt zwischen 46 (IHD) und 53. Die Regierung spricht lediglich von 37 Toten. Viele von ihnen wurden durch Schüsse der Sicherheitskräfte getötet. Laut einem Bericht des Menschenrechtsvereins IHD wurden 682 Menschen bei den Protesten verletzt. Mindestens 323 Personen wurden verhaftet. Im Verlauf des Aufstands kam es zudem zu Brandanschlägen auf Geschäfte sowie öffentliche Einrichtungen. Die Regierung macht die HDP für die Vorfälle verantwortlich.

EGMR wertet Aufruf als politische Rede

Die Generalstaatsanwaltschaft Ankara legt den Twitter-Beitrag der HDP-Zentrale als Aufruf zu Gewalt aus. Laut Auffassung der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) liegen für diese Annahme keine Beweise vor. Im Dezember stellte das Straßburger Gericht im Fall Selahattin Demirtaş vs. Türkei fest, dass sich der Eintrag „innerhalb der Grenzen der politischen Rede” bewegte. Insofern könne der Tweet nicht als Aufruf zur Gewalt ausgelegt werden, urteilte die Kammer und forderte die sofortige Freilassung des ehemaligen Ko-Vorsitzenden der HDP.

ANF-Artikel als Beweismittel der Anklage

Als Beweismittel werden in der 3530 Seiten langen Anklageschrift unter anderem ANF-Artikel über die politischen Aktivitäten der Beschuldigten sowie ihre Äußerungen und Interviews herangezogen. Insgesamt sind 413 Seiten unserer Berichterstattung gewidmet worden. Weitere 62 Seiten behandeln die „Strukturen von PKK/KCK“, auf deren Anweisung Selahattin Demirtaş nach Auffassung des Oberstaatsanwalts mehrere Erklärungen abgegeben haben soll, unter anderem nach einem Besuch in Kobanê am 30. September 2014.

Die Angeklagten im Kobanê-Prozess

Bei den 108 Angeklagten handelt es sich um Figen Yüksekdağ, Sebahat Tuncel, Selahattin Demirtaş, Selma Irmak, Sırrı Süreyya ÖnderGülfer Akkaya, Gülser Yıldırım, Gültan Kışanak, Ahmet Türk, Ali Ürküt, Alp Altınörs, Altan Tan, Ayhan Bilgen, Nazmi Gür, Ayla Akat Ata, Aysel Tuğluk, Ibrahim Binici, Ayşe Yağcı, Nezir Çakan, Pervin Oduncu, Meryem Adıbelli, Mesut Bağcık, Bircan Yorulmaz, Bülent Barmaksız, Can Memiş, Cihan Erdal, Berfin Özgü Köse, Günay Kubilay, Dilek Yağlı, Emine Ayna, Emine Beyza Üstün, Mehmet Hatip Dicle, Ertuğrul Kürkçü, Yurdusev Özsökmenler, Arife Köse, Ayfer Kordu (Besê Erzincan), Aynur Aşan, Ayşe Tonğuç, Azime Yılmaz, Bayram Yılmaz, Bergüzar Dumlu, Cemil Bayık, Ceylan Bağrıyanık, Cihan Ekin, Demir Çelik, Duran Kalkan, Elif Yıldırım, Emine Tekas, Emine Temel, Emrullah Cin, Engin Karaaslan, Enver Güngör, Ercan Arslan, Fatma Şenpınar, Fehman Huseyn (Bahoz Erdal), Ferhat Aksu, Filis Arslan, Filiz Duman, Gönül Tepe, Gülseren Törün, Gülten Alataş, Gülüşan Eksen, Gülüzar Tural, Güzel Imecik, Hacire Ateş, Hatice Altınışık, Hülya Oran (Besê Hozat), Ismail Özden (Zekî Şengalî, am 15. August 2018 in Şengal bei einem gezielten Angriff der türkischen Luftwaffe ums Leben gekommen), Ismail Şengül, Kamuran Yüksek, Layika Gültekin, Leyla Söğüt Aydeniz, Mahmut Dora, Mazhar Öztürk, Mazlum Tekdağ (am 1. Oktober 2019 bei einem türkischen Luftangriff in den Medya-Verteidigungsgebieten gefallen), Abdulselam Demirkıran, Mehmet Taş, Mehmet Tören, Menafi Bayazit, Mizgin Arı, Murat Karayılan, Mustafa Karasu, Muzaffer Ayata, Nazlı Taşpınar (Emine Erciyes), Neşe Baltaş, Nihal Ay, Nuriye Kesbir (Sozdar Avesta), Remzi Kartal, Rıza Altun, Ruken Karagöz, Sabiha Onar, Sabri Ok, Salih Akdoğan, Salih Muslim, Salman Kurtulan, Sara Aktaş, Sibel Akdeniz, Şenay Oruç, Ünal Ahmet Çelen, Yahya Figan, Yasemin Becerekli, Yusuf Koyuncu, Yüksel Baran, Zeki Çelik, Zeynep Karaman, Zeynep Ölbeci und Zübeyir Aydar.