Am kommenden Montag beginnt in Ankara das sogenannte „Kobanê-Verfahren“. 108 Politikerinnen und Politiker, die meisten von ihnen Mitglieder der Demokratischen Partei der Völker (HDP), werden im Zusammenhang mit den Protesten während des IS-Angriffs auf Kobanê im Oktober 2014 terroristischer Straftaten beschuldigt. „Die Demokratie steht in der Türkei auf dem Prüfstand”, erklärt die Progressive Internationale (PI), „Wir mobilisieren, um sie zu verteidigen." Dieser Prozess werde über das Schicksal des demokratischen Kampfes in dem Land am Bosporus entscheiden.
Auslöser des Kobanê-Verfahrens ist ein Beitrag des HDP-Exekutivrats im Kurznachrichtendienst Twitter, der während einer Dringlichkeitssitzung verfasst worden war und neben Solidarität mit der von der Terrormiliz „Islamischer Staat” (IS) eingekesselten Stadt in Westkurdistan auch zu einem unbefristeten Protest gegen die türkische Regierung aufrief, da diese ihre Unterstützung für den IS nicht beendete: „Dringender Aufruf an unsere Völker […]! In Kobanê ist die Lage äußerst kritisch. Wir rufen unsere Völker dazu auf, auf die Straße zu gehen und diejenigen zu unterstützen, die bereits auf der Straße sind, um gegen die Angriffe des IS und gegen das Embargo der AKP-Regierung zu protestieren.”
Dutzende Tote, hunderte Verletzte
Im Zuge dessen kam es in vielen Städten zu regelrechten Straßenschlachten zwischen Sicherheitskräften sowie paramilitärischen Verbänden wie Dorfschützern und Anhängern der radikalislamistischen türkisch-kurdischen Hisbollah (Hizbullah) und den Demonstrierenden. Die Zahl der dabei getöteten Menschen, bei denen es sich größtenteils um Teilnehmende des Aufstands handelte, schwankt zwischen 46 (IHD) und 53. Die Regierung spricht lediglich von 37 Toten. Viele von ihnen wurden durch Schüsse der Sicherheitskräfte getötet. Laut einem Bericht des Menschenrechtsvereins IHD wurden 682 Menschen bei den Protesten verletzt. Mindestens 323 Personen wurden verhaftet. Im Verlauf des Aufstands kam es zudem zu Brandanschlägen auf Geschäfte sowie öffentliche Einrichtungen. Die Regierung macht die HDP für die Vorfälle verantwortlich.
EGMR wertet Aufruf als politische Rede
Die Generalstaatsanwaltschaft Ankara legt den Twitter-Beitrag der HDP-Zentrale als Aufruf zu Gewalt aus. Laut Auffassung der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) liegen für diese Annahme keine Beweise vor. Im Dezember stellte das Straßburger Gericht im Fall Selahattin Demirtaş vs. Türkei fest, dass sich der Eintrag „innerhalb der Grenzen der politischen Rede” bewegte. Insofern könne der Tweet nicht als Aufruf zur Gewalt ausgelegt werden, urteilte die Kammer und forderte die sofortige Freilassung des ehemaligen Ko-Vorsitzenden der HDP.
PI: Erdoğan will EGMR-Urteil aushöhlen
„Präsident Erdoğan versucht nun, das Urteil des EGMR auszuhöhlen, die HDP zu beseitigen und ihre Führung zu inhaftieren”, so die PI. Allein Demirtaş drohen im Kobanê-Verfahren bis zu 15.000 Jahre Haft. In der Zwischenzeit hat der Chefankläger des Kassationsgerichts - von Erdoğan vor weniger als einem Jahr ernannt - das Verfassungsgericht aufgefordert, die HDP ganz zu verbieten. Laut der PI ist bei diesem Prozess ganz klar von juristischer Kriegsführung oder „Lawfare“ zu sprechen: Die Justiz wird zum Mittel um politische Konkurrenten auszuschalten. Diese Taktik beginnt mit Denunziationen ohne Beweise, wird durch erniedrigende Hetzkampagnen aufrechterhalten und verpflichtet die Opfer, sich ohne Grund endlos zu rechtfertigen. Die Repression geht mit Verhaftungen und Prozessen ohne jegliche Rechtsgrundlage weiter. Lawfare zwingt die politischen Debatten innerhalb des Gerichts. Die Taktik verzerrt schließlich die Rolle von Wahlen, die nicht mehr frei sind.
Lawfare-Taktik ein globales Phänomen
„Diese Taktik wird gegen Anwälte, Journalisten, Aktivisten und politische Vertreter in der gesamten Türkei trainiert“, hält die PI fest. Erdoğan versuche auf diese Weise, seine Macht zu konsolidieren. „Kritiker der AKP werden routinemäßig beschuldigt, ‚Terrorismus zu unterstützen’ und ‚Angst und Panik zu verbreiten’, was für Staatsanwälte den Weg ebnet, abweichende Meinungen zu unterdrücken, Medien zu schließen und ihre Reporter zu inhaftieren. Dies ist ein globales Phänomen. Die Eskalation der Strafverfolgung in der Türkei ist Teil einer globalen Anstrengung, Volksbewegungen zu kriminalisieren und die demokratischen Institutionen, die sie schützen sollen, zu korrumpieren. Der Kobanê-Prozess ist ein weiteres erschreckendes Kapitel in der Geschichte der politischen Verfolgung auf der ganzen Welt.”
45 Prozesstage angesetzt
Die Progressive International mobilisiert nach Ankara, um die Demokratie zu verteidigen, sich der Strafverfolgung zu widersetzen und Zeuge des „historischen Prozesses” im Kobanê-Verfahren zu werden, heißt es weiter. Gemeinsam mit Maciej Konieczny (Razem, Polen), Eva Ampazi (MeRA25, Griechenland) und David Adler (Koordinator Progressive International) reist die Delegation mit zwei Hauptzielen in die Türkei: „Als erstes gilt es, sich auf die Seite der HDP zu stellen. Ihre Werte - Frieden, Pluralismus, Feminismus und Internationalismus - sind der Kern unseres Projekts. Ihr Kampf ist eine Inspiration für die Welt. Das zweite Ziel ist, ein Signal an reaktionäre Kräfte überall zu senden. Von Ankara bis Brasilien steht die PI bereit, die Souveränität des Volkes zu schützen, wo immer sie bedroht ist. Das Kobanê-Verfahren mag am Montag beginnen, aber es endet nicht sofort. Der Prozess wird 45 Tage dauern und die Solidarität aller fortschrittlichen Kräfte in allen Ländern auf allen Kontinenten erfordern. Denn die Demokratie steht vor Gericht, und es ist unsere historische Verantwortung, sie zu verteidigen.”