EU-Kommission bescheinigt Türkei gravierende Rückschritte

Die Europäische Kommission sieht gravierende Rückschritte für den Beitrittsprozess der Türkei in die EU. Hervorgehoben wird in dem Bericht insbesondere das Verbotsverfahren gegen die HDP und die Unterdrückung der Opposition.

Die Europäische Kommission hat die wichtigsten Ergebnisse des Türkei-Berichts 2021 zum Beitrittsprozess in die EU veröffentlicht und stellt darin fest: „Der demokratische Rückschritt hat sich im Berichtszeitraum fortgesetzt. Strukturelle Defizite des Präsidialsystems blieben bestehen. Wichtige Empfehlungen des Europarats und seiner Gremien müssen noch umgesetzt werden."

Das türkische Parlament verfüge „weiterhin nicht über die notwendigen Mittel, um die Regierung zur Rechenschaft zu ziehen. Die verfassungsmäßige Architektur zentralisierte weiterhin die Befugnisse auf der Ebene der Präsidentschaft, ohne eine solide und effektive Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative zu gewährleisten. In Ermangelung eines wirksamen Mechanismus der gegenseitigen Kontrolle bleibt die demokratische Rechenschaftspflicht der Exekutive auf Wahlen beschränkt".

HDP-Verbotsverfahren schwächt den politischen Pluralismus“

In dem Bericht stellt die Europäische Kommission fest, dass das gegen die HDP eingeleitete Verbotsverfahren den politischen Pluralismus in der Türkei negativ beeinflusst und die kommunale Demokratie durch den Druck auf oppositionelle Bürgermeister:innen weiter geschwächt worden ist: „Der Druck der regierenden Koalitionsregierung auf die Bürgermeister der Oppositionsparteien schwächte die lokale Demokratie weiter. Bürgermeister der Oppositionsparteien sahen sich administrativen und gerichtlichen Ermittlungen ausgesetzt. Im Südosten wurden die zwangsweise entlassenen Bürgermeister weiterhin durch von der Regierung ernannte Treuhänder ersetzt, wodurch den Bürgern die gewählte Vertretung vorenthalten wurde. In den meisten Fällen haben die neuen Treuhänder die Gemeindeversammlungen ausgesetzt. Hunderte von Kommunalpolitikern und gewählten Mandatsträgern wurden aufgrund von Anschuldigungen im Zusammenhang mit Terrorismus verhaftet."

Die Europäische Kommission betont, dass „rund 4000 Mitglieder und Funktionäre der Demokratischen Partei der Völker (HDP) weiterhin im Gefängnis sitzen, darunter eine Reihe von Parlamentariern. Im Juni akzeptierte das Verfassungsgericht eine Anklageschrift, in der die Schließung der HDP gefordert und ein politisches Verbot für 451 HDP-Führungskräfte, einschließlich der Ko-Vorsitzenden der Partei und aller ehemaligen und derzeitigen Parlamentsmitglieder und Führungskräfte, sowie das Einfrieren der Bankkonten der Partei beantragt wurde. Die Staatsanwaltschaft hat im Parlament beantragt, die Immunität fast aller HDP-Abgeordneten aufzuheben."

Handlungsspielraum der Zivilgesellschaft eingeschränkt“

In Bezug auf die Zivilgesellschaft stellte die Europäische Kommission fest, dass „weiterhin ernsthafte Rückschritte“ zu verzeichnen sind: „Die Zivilgesellschaft stand unter ständigem Druck, und ihr Handlungsspielraum wurde weiter eingeschränkt, was ihre Meinungs- und Vereinigungsfreiheit einschränkte. Das neue Gesetz zur Verhinderung der Finanzierung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen gibt Anlass zur Sorge hinsichtlich möglicher Einschränkungen der Aktivitäten von Menschenrechtsverteidigern und der Zivilgesellschaft".

Zur Korruptionsbekämpfung heißt es in dem Bericht: „Die Türkei befindet sich noch in einem frühen Stadium der Vorbereitungen und hat im Berichtszeitraum keine Fortschritte gemacht. Das Land hat keine Korruptionsbekämpfungsstellen im Einklang mit den internationalen Verpflichtungen der Türkei eingerichtet".

Verschlechterung der Menschen- und Grundrechte

Die Verschlechterung der Menschen- und Grundrechte habe sich fortgesetzt, heißt es in dem Bericht. Viele der während des Ausnahmezustands eingeführten Maßnahmen seien weiterhin in Kraft. Auch der Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention stelle ihr Engagement für diese Standards in Frage. Der neue Aktionsplan für Menschenrechte, der Reformen in einer Reihe von Bereichen versprach, gehe auf kritische Fragen nicht ein."

Was die Meinungsfreiheit betrifft, so wurde in dem Bericht ein weiterer gravierender Rückschritt festgestellt: „Die Gesetzgebung und ihre Umsetzung, insbesondere die Bestimmungen zur nationalen Sicherheit und zur Terrorismusbekämpfung, verstießen weiterhin gegen die Europäische Menschenrechtskonvention und andere internationale Standards und wichen von der Rechtsprechung des EGMR ab. Die Verbreitung oppositioneller Stimmen und das Recht auf freie Meinungsäußerung wurden durch den zunehmenden Druck und die restriktiven Maßnahmen beeinträchtigt. Strafverfahren und Verurteilungen von Journalisten, Menschenrechtsverteidigern, Anwälten, Schriftstellern, Oppositionspolitikern, Studenten und Nutzern sozialer Medien hielten an."

Auch im Bereich der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit gab es dem Bericht zufolge „weitere gravierende Rückschritte angesichts wiederholter Verbote, unverhältnismäßiger Eingriffe und übermäßiger Gewaltanwendung bei friedlichen Demonstrationen, Ermittlungen, Bußgelder und strafrechtlicher Verfolgung von Demonstranten unter dem Vorwurf terrorismusbezogener Aktivitäten. Die Gesetzgebung und ihre Umsetzung stehen nicht im Einklang mit der türkischen Verfassung, europäischen Standards oder internationalen Konventionen."