Seit Beginn des Beitrittsprozesses der Türkei zur EU sind viele Jahre ins Land gegangen. Die Türkei hat sich niemals an die menschenrechtlichen und demokratischen Kriterien für einen Beitritt gehalten und in den vergangenen Jahren ihre innen- und außenpolitische Aggression immer weiter eskaliert. Insbesondere der sogenannte EU-Türkei-Deal, eine Absprache durch die das Erdoğan-Regime sich gegen politische Zugeständnisse und Milliardenzahlungen zum migrationspolitischen Türsteher der EU hat machen lassen, wurde vom AKP/MHP-Faschismus wiederholt als Druckmittel gegenüber der EU eingesetzt. Auch angesichts schwerster Menschenrechtsverletzungen und der Installation eines faschistischen Regimes hält die EU an ihrer Unterstützung fest und drückt allenfalls ihre „Sorge“ gegenüber der Türkei aus. Die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU scheinen sich trotz allem kontinuierlich zu verbessern, insbesondere vor dem Hintergrund der teilweisen Entspannung im östlichen Mittelmeerraum.
Die Europäische Union versucht so, die Türkei als Verbündete zu halten. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell hatte vor kurzem gegenüber France24 erklärt, man habe beschlossen, der Türkei die Hand zu reichen und die „bestmöglichen Beziehungen“ aufzubauen. Es gehe nicht um Sanktionen, man wolle stattdessen eine „positive Annäherung an die Türkei“. Wenn diese positive Annäherung nicht greife, dann „werde man sehen, was man tun werde“.
„EU setzt ihre Politik der Unterstützung Erdoğans trotz aller Rechtsverletzungen fort“
Im ANF-Gespräch äußert sich der Journalist Yücel Özdemir über diese Politik der EU. „Die Priorität in den Beziehungen zwischen der EU und der Türkei liegt seit langem auf der Außenpolitik, den wirtschaftlichen Interessen und dem Waffenexport”, so Özdemir. „In den 1990er und 2000er Jahren wurden Menschenrechtsverletzungen, Demokratie und die kurdische Frage jedoch stärker verfolgt. Obwohl sich die Situation der Grundrechte und -freiheiten in der Türkei von Tag zu Tag verschlechtert, setzt die EU ihre Unterstützung für Erdoğan und seine Regierung fort. Dahinter stehen ökonomische, wirtschaftliche und politische Interessen. Deutschland kommt bei der Gestaltung dieser Politik eine besondere Rolle zu.
„Einzige Sorge, die Türkei stärker an sich zu binden“
In Bezug auf die Angriffe auf Grundrechte und -freiheiten spielen Deutschland und die EU das Spiel der drei Affen. Ihre einzige Sorge ist es, die Türkei stärker an sich zu binden, während die Karten zwischen den imperialistischen Staaten neu gemischt werden. Es wird immer deutlicher, dass das Erdoğan-Regime, das zwischen dem westlichen Bündnis unter der NATO und Russland hin und her changiert, diese Politik aufgrund wirtschaftlicher und politischer Entwicklungen nicht fortsetzen kann.“
„Deutschland steht wegen Nord Stream unter Druck, die Türkei wegen S-400“
Özdemir erklärt, Deutschland stehe unter dem Druck der USA: „Die Haltung Deutschlands zur Türkei ist ist vor allem vor dem Hintergrund der Politik der USA, die Welt wie im Kalten Krieg bipolar zu gestalten und wieder eine Führungsrolle einzunehmen, bezeichnend. Deutschlands Plan ist es, ausgewogene Beziehungen zu den Vereinigten Staaten, Russland und China aufrechtzuerhalten und die EU zusammenzuhalten. Die USA üben bei jeder sich bietenden Gelegenheit Druck auf Deutschland aus, dieses Gleichgewicht zu stören. Die Erdgaspipeline Nord Stream, die zwischen Deutschland und Russland gebaut wird, hat nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine große politische Bedeutung. Für die Vereinigten Staaten sind auch die von der Türkei gekauften S-400 gefährlich. Letztlich ist es einfacher, die S-400 zurückzuhalten, als den Bau der Erdgasleitung abzubrechen."
Für die Türkei unverzichtbar
Zur Bedeutung der ökonomischen Beziehungen der Türkei sagt der Journalist: „Wirtschaftlich gesehen sieht es ähnlich aus. Das Land mit den meisten Exporten ist Deutschland, das Land mit den meisten Importen ist China. Deutschland ist der zweitgrößte Importeur der Türkei. Die Handelsbeziehungen zwischen Deutschland und der Türkei haben eine Intensität, wie sie selten zwischen zwei Staaten zu beobachten ist. Sie sind insbesondere für die Türkei unverzichtbar. Erdoğan hat in der ökonomischen Krise gar keine andere Wahl, als sich der EU zuzuwenden. Die Türkei ist wie Deutschland im Energiesektor von Russland abhängig.“
Deutsch-Türkische „Schicksalsgemeinschaft”
Diese Situation werde als eine Art „Schicksalsgemeinschaft“ betrachtet, sagt Özdemir und führt aus: „Der Druck der Vereinigten Staaten aufgrund der Beziehungen zu Russland und China hat die herrschenden Klassen der Türkei und Deutschlands einander nähergebracht, und sie gehen gemeinsam dabei vor, diesen Druck abzuwehren. Dazu haben sie sich offensichtlich verabredet. Es ist schwer zu sagen, wie weit das gehen wird und wohin es führt. Aber es scheint so, als würden die weltweiten Spannungen Deutschland und die Türkei einander näherbringen. Aus diesem Grund werden die EU und Deutschland weiterhin die drei Affen gegenüber den Menschenrechtsverletzungen, in Bezug auf die Demokratiefrage, die kurdische Frage und die Pressefreiheit spielen und dabei auf ‚positive Entwicklungen‘ in der Türkei verweisen. Deutschland hat es unter Androhung eines Wirtschafts- und Waffenembargos geschafft, Deniz Yücel ohne Gerichtsverfahren freizubekommen. Etwa 59 deutsche Staatsangehörige befinden sich derzeit in türkischen Gefängnissen und etwa 70 deutsche Staatsangehörige können die Türkei nicht verlassen können. Sie sind sozusagen ‚vergessen‘ worden, und das trotz unzähliger Appelle.“