„Kobanê-Prozess“ in Ankara um eine Woche vertagt

Der Prozessauftakt gegen führende Politikerinnen und Politiker der HDP in Ankara ist nach heftigen Protesten der Angeklagten und der Verteidigung um eine Woche vertagt worden. Die Anklageschrift wurde in Abwesenheit der Verteidigung verlesen.

Der erste Verhandlungstag im „Kobanê-Prozess“ gegen führende Politikerinnen und Politiker der Demokratischen Partei der Völker (HDP) in Ankara wurde von heftigen Protesten der Angeklagten und der Verteidigung begleitet. Eine Zusammenfassung der 3530 Seiten umfassenden Anklageschrift wurde in Abwesenheit der Verteidigung verlesen. Ein Befangenheitsantrag der Verteidigung gegen die Richter wurde abgelehnt, die Verhandlung wurde auf den 3. Mai vertagt.

Von den 108 Angeklagten sind 28 inhaftiert, der Prozess findet im Gefängniskomplex Sincan statt. Ein Teil der Angeklagten befand sich im Verhandlungssaal, andere prominente Politikerinnen und Politiker wie die ehemaligen HDP-Vorsitzenden Fiğen Yüksekdağ und Selahattin Demirtaş wurden per Video zugeschaltet. Bereits zu Beginn der Verhandlung kam es zu tumultartigen Szenen, weil ein Teil der Anwältinnen und Anwälte nicht in den Sitzungssaal gelassen wurde. Die Proteste gingen bei der Verlesung der Anklageschrift weiter. Die per Video zugeschalteten Angeklagten hielten Zettel in die Kamera, um mitzuteilen, dass ihnen der Ton abgeschaltet worden ist. Als die Verteidigung Rederecht für die Angeklagten einforderte und der Antrag abgelehnt wurde, verließen die Anwältinnen und Anwälte aus Protest den Verhandlungsraum.

Die seit 2016 inhaftierte kurdische Politikerin Sebahat Tuncel stellte eine Befangenheitsantrag gegen die Richter, weil die Anklageschrift rechtswidrig in Abwesenheit der Verteidigung verlesen wurde. Dem Antrag schlossen sich Fiğen Yüksekdağ und Selahattin Demirtaş mit eigenen Begründungen an. Demirtaş forderte Respekt gegenüber der HDP als drittgrößter Partei in der Türkei ein und erklärte, er nehme nicht als Angeklagter an dem Prozess teil, sondern um selbst anzuklagen.

Weil eine Fortsetzung der Verhandlung mit der vorgesehenen Verteidigung der Angeklagten nicht möglich war, wurde die Sitzung beendet und auf den 3. Mai um 9.30 Uhr vertagt.

Der sogenannte „Kobanê-Prozess“ in Ankara begann unter einem massiven Polizeiaufgebot. Während Dutzende Polizisten den Sitzungssaal besetzten, wurde nur ein Teil der Anwältinnen und Anwälte in den Saal gelassen.

Hintergrund: Angeklagt wegen Kobanê-Solidarität

Angeklagt sind in dem Verfahren 108 Persönlichkeiten aus Politik, Zivilgesellschaft und der kurdischen Befreiungsbewegung, die im Zusammenhang mit den Protesten während des IS-Angriffs auf Kobanê im Oktober 2014 terroristischer Straftaten und des Mordes in dutzenden Fällen beschuldigt werden. Allein für den ehemaligen HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş fordert die Generalstaatsanwaltschaft bis zu 15.000 utopische Jahre Haft. 28 der Angeklagten sind inhaftiert.

Auslöser des Kobanê-Verfahrens ist ein Beitrag des HDP-Exekutivrats im Kurznachrichtendienst Twitter, der während einer Dringlichkeitssitzung verfasst worden war und neben Solidarität mit der von der Terrormiliz „Islamischer Staat” (IS) eingekesselten Stadt in Westkurdistan auch zu einem unbefristeten Protest gegen die türkische Regierung aufrief, da diese ihre Unterstützung für den IS nicht beendete: „Dringender Aufruf an unsere Völker […]! In Kobanê ist die Lage äußerst kritisch. Wir rufen unsere Völker dazu auf, auf die Straße zu gehen und diejenigen zu unterstützen, die bereits auf der Straße sind, um gegen die Angriffe des IS und gegen das Embargo der AKP-Regierung zu protestieren.”

Dutzende Tote, hunderte Verletzte

Im Zuge dessen kam es in vielen Städten zu regelrechten Straßenschlachten zwischen Sicherheitskräften sowie paramilitärischen Verbänden wie Dorfschützern und Anhängern der radikalislamistischen türkisch-kurdischen Hisbollah (Hizbullah) und den Demonstrierenden. Die Zahl der dabei getöteten Menschen, bei denen es sich größtenteils um Teilnehmende des Aufstands handelte, schwankt zwischen 46 (IHD) und 53. Die Regierung spricht lediglich von 37 Toten. Viele von ihnen wurden durch Schüsse der Sicherheitskräfte getötet. Laut einem Bericht des Menschenrechtsvereins IHD wurden 682 Menschen bei den Protesten verletzt. Mindestens 323 Personen wurden verhaftet. Im Verlauf des Aufstands kam es zudem zu Brandanschlägen auf Geschäfte sowie öffentliche Einrichtungen. Die Regierung macht die HDP für die Vorfälle verantwortlich.

EGMR wertet Aufruf als politische Rede

Die Generalstaatsanwaltschaft Ankara legt den Twitter-Beitrag der HDP-Zentrale als Aufruf zu Gewalt aus. Laut Auffassung der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) liegen für diese Annahme keine Beweise vor. Im Dezember stellte das Straßburger Gericht im Fall Selahattin Demirtaş vs. Türkei fest, dass sich der Eintrag „innerhalb der Grenzen der politischen Rede” bewegte. Insofern könne der Tweet nicht als Aufruf zur Gewalt ausgelegt werden, urteilte die Kammer und forderte die sofortige Freilassung des ehemaligen Ko-Vorsitzenden der HDP.

ANF-Artikel als Beweismittel der Anklage

Als Beweismittel werden in der 3530 Seiten langen Anklageschrift unter anderem ANF-Artikel über die politischen Aktivitäten der Beschuldigten sowie ihre Äußerungen und Interviews herangezogen. Insgesamt sind 413 Seiten unserer Berichterstattung gewidmet worden. Weitere 62 Seiten behandeln die „Strukturen von PKK/KCK“, auf deren Anweisung Selahattin Demirtaş nach Auffassung des Oberstaatsanwalts mehrere Erklärungen abgegeben haben soll, unter anderem nach einem Besuch in Kobanê am 30. September 2014.

Die Angeklagten im Kobanê-Prozess

Bei den 108 Angeklagten handelt es sich um Figen Yüksekdağ, Sebahat Tuncel, Selahattin Demirtaş, Selma Irmak, Sırrı Süreyya ÖnderGülfer Akkaya, Gülser Yıldırım, Gültan Kışanak, Ahmet Türk, Ali Ürküt, Alp Altınörs, Altan Tan, Ayhan Bilgen, Nazmi Gür, Ayla Akat Ata, Aysel Tuğluk, Ibrahim Binici, Ayşe Yağcı, Nezir Çakan, Pervin Oduncu, Meryem Adıbelli, Mesut Bağcık, Bircan Yorulmaz, Bülent Barmaksız, Can Memiş, Cihan Erdal, Berfin Özgü Köse, Günay Kubilay, Dilek Yağlı, Emine Ayna, Emine Beyza Üstün, Mehmet Hatip Dicle, Ertuğrul Kürkçü, Yurdusev Özsökmenler, Arife Köse, Ayfer Kordu (Besê Erzincan), Aynur Aşan, Ayşe Tonğuç, Azime Yılmaz, Bayram Yılmaz, Bergüzar Dumlu, Cemil Bayık, Ceylan Bağrıyanık, Cihan Ekin, Demir Çelik, Duran Kalkan, Elif Yıldırım, Emine Tekas, Emine Temel, Emrullah Cin, Engin Karaaslan, Enver Güngör, Ercan Arslan, Fatma Şenpınar, Fehman Huseyn (Bahoz Erdal), Ferhat Aksu, Filis Arslan, Filiz Duman, Gönül Tepe, Gülseren Törün, Gülten Alataş, Gülüşan Eksen, Gülüzar Tural, Güzel Imecik, Hacire Ateş, Hatice Altınışık, Hülya Oran (Besê Hozat), Ismail Özden (Zekî Şengalî, am 15. August 2018 in Şengal bei einem gezielten Angriff der türkischen Luftwaffe ums Leben gekommen), Ismail Şengül, Kamuran Yüksek, Layika Gültekin, Leyla Söğüt Aydeniz, Mahmut Dora, Mazhar Öztürk, Mazlum Tekdağ (am 1. Oktober 2019 bei einem türkischen Luftangriff in den Medya-Verteidigungsgebieten gefallen), Abdulselam Demirkıran, Mehmet Taş, Mehmet Tören, Menafi Bayazit, Mizgin Arı, Murat Karayılan, Mustafa Karasu, Muzaffer Ayata, Nazlı Taşpınar (Emine Erciyes), Neşe Baltaş, Nihal Ay, Nuriye Kesbir (Sozdar Avesta), Remzi Kartal, Rıza Altun, Ruken Karagöz, Sabiha Onar, Sabri Ok, Salih Akdoğan, Salih Muslim, Salman Kurtulan, Sara Aktaş, Sibel Akdeniz, Şenay Oruç, Ünal Ahmet Çelen, Yahya Figan, Yasemin Becerekli, Yusuf Koyuncu, Yüksel Baran, Zeki Çelik, Zeynep Karaman, Zeynep Ölbeci und Zübeyir Aydar.