Azadî: Keine Entspannung in Sicht

Azadî e.V. fasst in einem Jahresrückblick die Repression gegen die kurdische Befreiungsbewegung in Deutschland zusammen und warnt vor allzu großen Erwartungen an die neue Bundesregierung.

Der Rechtshilfefonds Azadî e.V. hat eine Zusammenfassung der Repression gegen die kurdische Befreiungsbewegung in Deutschland im vergangenen Jahr veröffentlicht. Demnach hat die deutsche Bundesregierung ihre enge diplomatische Zusammenarbeit mit der Türkei 2021 vertieft und damit auch „leider wie gewohnt, die Repression gegen Aktivitäten und Aktivist:innen im Umfeld der kurdischen Befreiungsbewegung“, so der in Köln ansässige Verein:

Im Zusammenhang mit dem § 129b StGB (Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung) kam es zu neuen Verhaftungen, Anklagen und Prozesseröffnungen. Vier Aktivisten wurden im letzten Jahr festgenommen und Anklage gegen sie erhoben.

In allen Fällen beruht die Anklage im wesentlichen auf über Monate durchgeführten Telefonüberwachungen. Zur Last gelegt werden den Angeklagten politische Aktivitäten, etwa Vereinsmitglieder zur Teilnahme an Veranstaltungen mobilisiert oder Spendenkampagnen durchgeführt zu haben. Bis auf wenige Ausnahmen sind Anklagen gemäß § 129b StGB immer mit Untersuchungshaft unter verschärften Isolationsbedingungen verbunden, wozu etwa Trennscheibe, Kontrollrichter:in und Besuchsüberwachung in Anwesenheit von LKA-Beamt:innen gehören.

Stammheim: Hohe Freiheitsstrafen trotz Lügenmärchen des Kronzeugen

Als spektakulärstes § 129b-Verfahren ging am 30. April 2021 der Prozess gegen fünf Beschuldigte vor dem OLG Stuttgart zu Ende. Der Hauptangeklagte Veysel S. wurde wegen Mitgliedschaft in der PKK als Regions- und Gebietsleiter von Hamburg, Berlin und Baden-Württemberg und wegen versuchter räuberischer Erpressung, Freiheitsberaubung und gemeinschaftlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und drei Monaten verurteilt. Die Angeklagten Özkan T. und Agit K. erhielten wegen derselben Tatvorwürfe Haftstrafen von drei bzw. vier Jahren. Cihan A. und Evrim A., ebenfalls angeklagt, wurden jeweils zu eineinhalb Jahren auf Bewährung verurteilt. Anklage und Verurteilung fußten fast ausschließlich auf den Aussagen des Kronzeugen Ridvan Ö. Der hatte angegeben, von den Angeklagten geschlagen, gewaltsam entführt, in einen Keller gesperrt und von maskierten und bewaffneten Männern bedroht und dort wieder geschlagen worden zu sein, und all dies nur, weil er nicht mehr für die PKK aktiv sein wolle. Obwohl das Gericht letztlich nicht umhinkam, die Einlassungen des Kronzeugen zum großen Teil als Lügenmärchen zu bewerten, wurden die Angeklagten letztendlich zu teils hohen Freiheitsstrafen verurteilt.

Verurteilungen in Koblenz und Stuttgart

Bereits am 19. Februar endete das Verfahren gegen Gökmen C. vor dem OLG Koblenz mit einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und fünf Monaten. Das OLG Stuttgart verurteilte am 19. Oktober den politischen Aktivisten Kamuran Y. V. wegen Mitgliedschaft in einer „ausländischen terroristischen Vereinigung“ nach § 129b StGB zu zwei Jahren und sieben Monaten Haft.

§ 20 Vereinsgesetz

Etwas ruhiger wurde die Repression bezüglich der Anwendung des § 20 Vereinsgesetz, der vor allem das öffentliche Zeigen der PKK zugeordneter Symbole kriminalisiert. Das mag zu einem Teil der Corona-Pandemie geschuldet sein, da im ersten Halbjahr 2020 deutlich weniger Versammlungen und Demonstrationen stattfanden, bei der dieser Paragraph üblicherweise zur Anwendung kommt. Einen großen Anteil hat sicher auch das Urteil des Bayerische Obersten Landesgerichts vom 1. Dezember 2020. Es hatte entschieden, dass das Zeigen von Symbolen der kurdischen Selbstverteidigungskräfte YPG und YPJ auf Versammlungen und im Internet nicht strafbar ist. Gerade in Bayern hatten die Staatsanwaltschaften Hunderte dieser Verfahren, oft auch verbunden mit Hausdurchsuchungen bei den Betroffenen, durchgeführt.

Aber nach wie vor erscheint der Verfolgungseifer regional sehr unterschiedlich zu sein und man bekommt den Eindruck, manche Staatsanwaltschaften betreiben ihn als Steckenpferd. Hier tat sich im vergangenen Jahr die Staatsanwaltschaft Lüneburg gegenüber einem Antifaschisten hervor. Ausgangspunkt war das Mitführen einer Antifa-Enternasyonal-Fahne bei einer Demo gegen den Einmarsch der türkischen Armee in Afrin 2018. Die Staatsanwaltschaft behauptete, es handele sich um ein verbotenes Symbol und sei als „Ersatz“ für das ebenfalls verbotene PKK/KCK-Kennzeichen benutzt worden. Nach einer Niederlage vor dem AG Lüneburg mit einem Freispruch des Angeklagten im Juli 2020 ging die Staatsanwaltschaft durch die folgenden Instanzen. Auf deren Berufung hin endete der Prozess vor dem zuständigen Landgericht ebenfalls im November 2020 mit einem Freispruch. Letztinstanzlich bestätigte dann das OLG Celle im November 2021 die vorherigen Gerichtsurteile. Die Kosten aller dieser überflüssigen Verfahren gehen letztendlich zu Lasten der Steuerzahler:innen. Gegen den selben Betroffenen endete eine Ordnungswidrigkeitensache vor dem AG Lüneburg mit einer Einstellung.

Ausländerrecht“

Für kurdische Aktivist:innen ohne deutschen Pass wirkt zudem das Aufenthalts- und Asylrecht als eine Art Parallelstrafrecht. Schon geringe politische Aktivitäten, die nicht der Strafbarkeit unterliegen, können für die Betroffenen gravierende Folgen haben bezüglich Aufenthaltsrecht, Arbeitserlaubnis, Asylstatus und Einbürgerung. In diesem Bereich sticht vor allem das von GRÜNEN und CDU geführte Bundesland Baden-Württemberg negativ hervor. Exemplarisch hier das Beispiel einer Kurdin, die 2017 einen Antrag auf Einbürgerung gestellt hatte. Im April 2021 erhielt sie von der zuständigen Behörde die Mitteilung, ihr Antrag sei abzulehnen. Die Begründung lautete, dem LKA lägen Erkenntnisse vor, dass sie mehrfach an Demonstrationen mit PKK-Bezug teilgenommen hätte. Auch hätte ihre Familie nachweislich in langjährigem Kontakt zu einem mittlerweile verurteilten PKK-Gebietsleiter gestanden.

Eine besorgniserregende Entwicklung ist es auch, dass im Falle von Ausweisungen und Abschiebungen von Kurd:innen und linken türkischen Aktivist:innen in die Türkei deutsche Verwaltungsgerichte zunehmend den Standpunkt einnehmen, in der Türkei sei für die Betroffenen ein rechtsstaatliches Verfahren gewährleistet. Damit fallen die Gerichte selbst hinter den politischen Standpunkt der Bundesregierung und den Einschätzungen des Auswärtigen Amts zurück. So sollte die in der Türkei für die HDP aktive Nazdar E. am 8. April in die Türkei deportiert werden. Nur dadurch, dass sie sich physisch der Rückführung widersetzte, konnte dies verhindert werden. Die Politikerin hatte 2015/2016 das Massaker von Cizre überlebt. Damals wurde als Reaktion auf Aufstände der Jugend fast die ganze Innenstadt dem Erdboden gleichgemacht. Mindestens 177 in einem Keller Zuflucht suchende Menschen wurden bei lebendigem Leibe verbrannt. Im September 2021 wurde schließlich dem Asylantrag von Nazdar E. stattgegeben.

Interventionen

Im letzten Jahr verstärkte sich die Praxis der Sicherheitsbehörden, prokurdische Aktivitäten nicht nur im Nachhinein zu kriminalisieren, sondern bereits im Vorfeld aktiv zu unterbinden: Am 4. Juli sollte der 4. Kongress des kurdischen Europadachverbandes KCDK-E im nordrhein-westfälischen Bergisch Gladbach stattfinden. Obwohl die Veranstaltung schon seit Wochen vorbereitet und transparente Einladungen erfolgt waren, untersagte die Kölner Polizei den Kongress erst am Vorabend per Telefonanruf bei den beiden Ko-Vorsitzenden des KCDK-E, um rechtliche Schritte gegen die Verfügung unmöglich zu machen. Eine schriftliche Begründung, auf die sich eine Klage gegen das Verbot hätte aufbauen lassen, lag dem KCDK-E auch Tage nach den Telefonaten nicht vor. Begleitet wurde das Verbot von einer intensiven von der Polizei befeuerten medialen Hetze, hochrangige Vertreter:innen der PKK planten ein Treffen in Deutschland. Trotz eines massiven Polizeiaufgebotes konnte der Kongress in improvisierter Weise am nächsten Tag unter freiem Himmel vor dem Bahnhof Köln-Mühlheim abgehalten werden.

Um die Verbreitung von Informationen über den seit April geführten schmutzigen Krieg der türkischen Armee in Südkurdistan zu verhindern, wurde im Juni der Bundesgrenzschutz aktiv. Am Düsseldorfer Flughafen verhinderte er auf rechtlich höchst fragwürdige Weise die Ausreise einer Gruppe der Kampagne „Defend Kurdistan“, die zu einer internationalen Friedensdelegation auf dem Weg in den Nordirak war. Unter den Festgehaltenen war auch die Hamburger Bürgerschaftsabgeordnete der Linksfraktion, Cansu Özdemir. Nicht nur vor der Abreise, sondern auch nach der Rückkehr gab es massive Angriffe der Polizei gegen die Delegationsteilnehmer:innen und auf sie am Flughafen wartenden solidarischen Menschen.

Ausblick

Nach 16 Jahren Großer Koalition unter Angela Merkel stellen sich natürlich viele die Frage, ob sich die neue Ampel-Koalition gegenüber der Türkei neu ausrichtet und welche Folgen das für die in Deutschland lebenden Kurd:innen haben könnte. Hier muss vor allzu großen Erwartungen gewarnt werden. Die Bekämpfung der kurdischen Befreiungsbewegung ist seit über 30 Jahren NATO-Raison, der sich bislang keine deutsche Regierung entzogen hat. Ganz im Gegenteil: Nicht umsonst hat Bundeskanzlerin Merkel, die extrem Erdoğan-hörig war, beim letzten G20-Gipfel in Rom den damals designierten Kanzler Olaf Scholz zu ihrem bilateralen Treffen mit dem türkischen Präsidenten mitgenommen, um die Fortsetzung dieser Linie zu gewährleisten. Die Partei die GRÜNEN, die nun die Außenministerin stellt, hat ein gebrochenes Verhältnis zur kurdischen Befreiungsbewegung, dass sich durch gewisse Sympathien gegenüber der HDP bei strikter Ablehnung der PKK beschreiben lässt. Auch hier muss man sich eventuell auf Argumentationsmuster einstellen, dass die Bundesregierung die PKK in Deutschland stärker bekämpfen müsse, um sich in der Türkei glaubhafter für Menschenrechte einsetzen zu können. Diesen Tenor enthielt bereits eine Stellungnahme des Auswärtigen Amts zum drohenden Verbot der HDP in der Türkei unter Außenminister Heiko Maas. Darin wurde gefordert, die HDP müsse sich stärker von der PKK distanzieren.


Der Artikel ist dem aktuellen Azadî-Info entnommen, eine ausführliche Fassung wurde im Kurdistan Report 219 veröffentlicht. Azadî e.V. hat im vergangenen Monat die politischen Gefangenen mit 770 Euro unterstützt; zwei weitere Gefangene erhielten Geld zum Einkauf von Ortsgruppen der Roten Hilfe. Auf diese Weise werden zur Zeit neun Kurden in deutschen Gefängnissen betreut.

Der kurdische Aktivist Mazhar T. wurde Ende Dezember nach Verbüßung seiner Haftstrafe wegen einer Verurteilung nach § 129b StGB aus der Haft in der JVA Dieburg entlassen. Mazhar T. war vom OLG Koblenz wegen angeblicher Mitgliedschaft in der PKK zu zwei Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt worden.

Adressen der § 129b-Gefangenen

Mirza Bilen, JVA Augsburg, Fliegerhorst 1, 86456 Augsburg-Gablingen

Gökmen Çakil, JVA Butzbach, Kleeberger Straße 23, 35510 Butzbach

Mustafa Çelik, JVA Bremen, Am Fuchsberg 3, 28239 Bremen

Mazlum Dora, JVA Stuttgart, Asperger Str. 60, 70439 Stuttgart

Merdan K., JVA Stuttgart, Asperger Str. 60, 70439 Stuttgart

Agit Kulu, JVA Stuttgart, Asperger Str. 60, 70439 Stuttgart

Abdullah Öcalan, JVA Frankfurt I, Obere Kreuzäckerstr. 6, 60435 Frankfurt a.M.

Veysel Satilmiş, JVA Stuttgart, Asperger Str. 60, 70439 Stuttgart

Kamuran Y. Vesek, JVA Stuttgart, Asperger Str. 60, 70439 Stuttgart