Ulrich Weber ist Sprecher der bundesweiten Initiative PKK-Verbot aufheben und war als Aktivist von „Defend Kurdistan“ mit einer internationalen Friedensdelegation im Sommer in Südkurdistan. Die Delegation hat es sich zur Aufgabe gemacht, in Europa über die Situation der Menschen in Kurdistan zu berichten und eine Öffentlichkeit zu den Kriegsverbrechen der türkischen Armee herzustellen. Im ANF-Interview schildert Ulrich Weber seine Eindrücke und schätzt die aktuelle Lage ein.
Als Aktivist von Defend Kurdistan haben Sie in Kurdistans zum Frieden aufgerufen und Kontakte geknüpft. Könnten Sie das ein wenig erklären?
Im Juni bin ich als Teil einer internationalen Friedensdelegation nach Südkurdistan geflogen. Geplant war es, mit 150 Menschen aus 15 unterschiedlichen Ländern in die autonome Region Kurdistan zu reisen, um dort mit politischen Parteien, mit Vertreterinnen und Vertretern aus Wissenschaft, Kunst und Kultur sowie NGO’s über den Angriffskrieg auf Südkurdistan zu sprechen und einen Raum für Dialog herzustellen. In erster Linie ging es dabei um die türkische Großoffensive, welche am 23. April diesen Jahres begann und immer noch andauert, aber wie wir wissen, versucht der türkische Staat bereits seit den 90er Jahren immer wieder, mit riesigen Großoffensiven in der Region Fuß zu fassen.
Nachdem wir die ersten Berichte von den großflächigen Bombardierungen, der Zerstörung der Natur und der Vertreibung von Zivilisten aus ihren Dörfern gehört hatten, haben wir beschlossen, nach Kurdistan zu fahren, da sich die südkurdische Regierung bis dahin in Schweigen hüllte und sich nicht über die voranschreitende türkische Besatzungspolitik äußerte. Leider kam nur circa die Hälfte der Menschen in Hewler an. Vielen, darunter auch einer Politikerin, wurde bereits in Deutschland von der Bundespolizei die Ausreise untersagt. Andererseits wurden auch viele am Flughafen in Hewlêr [Erbil] abgefangen, wo ihnen die Einreise verweigert wurde und sie daraufhin mehrere Tage am Flughafen bleiben mussten, bis wieder Rückflüge möglich waren. Wieder andere wurden in Qatar festgehalten und der Flug nach Südkurdistan untersagt.
Uns wurde also schnell klar gemacht, welche internationalen Interessen im Krieg in Südkurdistan verwickelt sind. Unter anderem spielt der deutsche Staat darin eine wesentliche Rolle, der als NATO-Verbündeter die Türkei mit Waffen beliefert und von der geopolitischen Bedeutung des deutsch-türkischen Bündnisses profitiert. So hat es uns nicht verwundert, dass auch nach der Rückkehr aus Kurdistan einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Delegation von der Polizei aus dem Flugzeug geholt wurden und verhört werden sollten.
Doch von all dem ließen wir uns nicht beeindrucken und haben trotz der schwierigen Umstände versucht, unseren Standpunkt zur türkischen Besatzung offen kundzutun. In Hewlêr haben wir Vertreterinnen und Vertreter aus sämtlichen politischen Parteien getroffen, wie der PDK, der YNK und der Gorran-Bewegung. Die Antworten, die wir bekommen haben, waren dabei sehr unterschiedlich, doch den meisten Politikern war die Besatzungspolitik der Türkei bewusst und auch klar, dass es unter keinen Umständen einen innerkurdischen Krieg geben darf. Neben den vielen Politikerinnen und Politikern, die wir in Südkurdistan getroffen haben, haben wir außerdem das religiöse Oberhaupt der Eziden, Baba Sheikh, getroffen, der uns in die Heiligenstätte Lalesh eingeladen und über das schlimme Schicksal der Eziden berichtet hat. So kam es auch, dass wir noch am selben Tag das Flüchtlingslager Sharya besucht haben, wo wir mit den Bewohnern in den Kontakt gekommen sind, um über die schlimmen Bedingungen zu berichten, unter den die tausenden Familien in dem Zeltlager leben müssen. Der Anblick war für viele von uns ein gänzlich neuer, da wir solche Bilder und solche Lebensumstände aus Europa nicht kennen und es vielen von uns die Sprache verschlagen hat.
Es ist schlimm zu sehen, wie es vor allem die Zivilbevölkerung ist, die unter Krieg und Misswirtschaft leidet. Dabei ist auch klar zu sagen, dass uns oft gesagt wurde, dass Korruption die Korruption und die Politik einzelner Familienclans wohl das größte Hindernisse dafür ist, dass eine wirkliche Demokratie in Südkurdistan entstehen kann.
Nachdem die Friedensdelegation von Hewlêr nach Silêmanî gegangen ist, wurden uns für unsere Treffen deutlich weniger Steine in den Weg gelegt. Waren wir in Hewlêr noch unter ständiger Begleitung der Polizei und Sicherheitsdienste, konnten wir uns in Silêmanî deutlich freier bewegen und wurden beispielsweise von NGOs und auch dem Bürgermeister eingeladen.
Einen traurigen Höhepunkt stellte der Besuch bei der Trauerfeier von Sehid Rêdûr dar, der wenige Tage vor unserer Ankunft durch einen türkischen Drohnenangriff umkam. Bei einem kleinen Haus, wo hunderte Menschen dem Verstorbenen gedachten, wurden wir wärmstens von seiner Schwester und seinen Eltern in Empfang genommen. Wieder einmal konnten wir fühlen, was der Krieg für die Menschen bedeutet und das war für uns alle ein neues Gefühl, etwas ganz anderes, als wenn man davon in der Zeitung lesen würde. Eben dies zeigte auch unser Besuch in Kuna Masî bei einer Familie, welche ein Jahr zuvor durch einen türkischen Drohnenangriff schwer verletzt wurde und deren großer Wunsch es ist, dass endlich der Krieg gegen das kurdische Volk aufhören soll. Eben aus diesem Grund haben wir es uns zur Aufgabe gemacht, in Europa während und nach der Delegation über die Situation der Menschen zu berichten. Sowohl im Fernsehen, in Zeitungen, im Radio und in den Herkunftsstädten wurden Dutzende Beiträge und Veranstaltungen organisiert, um auch die Menschen hier über den Krieg aufzuklären, welchen die Türkei dem kurdischen Volk aufzwingt.
Bei der Invasion in Südkurdistan werden von der türkischen Armee seit geraumer Zeit Chemiewaffen eingesetzt. Wie schätzen Sie die Lage ein?
Seit Beginn der Offensive war schnell klar, dass der türkische Staat in diesem Jahr mit einer neuen Härte versucht, seine Politik der militärischen Vernichtung umsetzen. So hat er, nachdem er sich am Anfang des Jahres nach wenigen Tagen aus Gare zurückziehen musste, in drei Gebieten in Südkurdistan eine Großoffensive begonnen, bei der die ganze technische Überlegenheit benutzt werden sollte. Dabei wurden die Menschen aus mehreren Dörfern vertrieben, damit der türkische Staat leichter seinen Plan umsetzen konnte, die Bergregionen großflächig zu bombardieren, sich neue Stützpunkte aufzubauen und mit der Rodung von Tausenden Tonnen Bäumen neue Straßen für gepanzerte Fahrzeuge zu schaffen. Nachdem sich die Soldaten monatelang in den Gebieten festgesetzt haben, aber trotz der großen technischen Überlegenheit keinen Weg gefunden haben, weitere Gebiete einzunehmen, sind sie Berichten zu Folge zu dem Einsatz von Giftgas übergegangen.
Der Einsatz von chemischen Waffen wie das Giftgas, das in Südkurdistan gegen die Guerilla eingesetzt wird, ist international geächtet und verboten. Eigentlich fällt der Einsatz von diesen Kampfmitteln in den Kontrollbereich der Organisation für das Verbot chemischer Waffen, die OPCW. Diese sind trotz authentischer Videoaufnahmen von dem Einsatz von Gaskartuschen und Meldungen des Pressezentrums der HPG inaktiv geblieben. Mir scheint es, als sei das Interesse, diese Kriegsverbrechen aufzuklären, sehr verhalten.
Das betrifft auch die Reaktion der europäischen Staaten, darunter auch Deutschland. Aufgrund wirtschaftlicher und militärischer Verstrickung würde es ihnen einen immensen Schaden verursachen, wenn der Einsatz von chemischen Kampfstoffen durch die Türkei untersucht und bestätigt wird. Wenn wir uns anschauen, was die deutsche Waffenindustrie nach dem Hitler-Faschismus für Verbrechen unterstützt und in Kauf genommen hat, dann wundert es uns nicht, dass die deutsche Bundesregierung heute sagt, dass sie nur ungesicherte Informationen aus den Medien über die Giftgaseinsätze hat.
Wenn ich auf die Geschichte verweise, dann meine ich unter anderem das Giftgas aus deutscher Produktion, mit dem der irakische Diktator Saddam 1988 Tausende Menschen in Halabja umbrachte. Bei unserer Delegation nach Südkurdistan haben wir auch das Denkmal für die Giftgasangriffe in Halabja besucht und noch mehr über die historische Bedeutung Deutschlands im Krieg gegen die Kurden erfahren. Nachdem über den Sommer immer mehr Berichte über den Einsatz von Giftgas veröffentlicht wurden, haben wir uns auch in Deutschland überlegt, wie wir dagegen aktiv werden können. Mittlerweile läuft eine Petition, ein Spendenaufruf für Gasmasken von der Kampagne Rise Up 4 Rojava und in vielen Städten haben dutzende Aktionen stattgefunden.
In Europa gehen die Aktionen gegen Chemiewaffen weiter. Die internationale Öffentlichkeit schweigt noch zu dieser Situation, was denken Sie und haben Sie einen Aufruf an die internationale Öffentlichkeit?
Wir freuen uns sehr darüber, dass mittlerweile so viele Aktionen gegen den Einsatz von Chemiewaffen durch die türkische Armee durchgeführt werden. Es ist von immenser Bedeutung, auf diese Verbrechen aufmerksam zu machen, und das können wir nur gemeinsam schaffen. Als Aktivistinnen und Aktivisten der Friedensdelegation und von Defend Kurdistan bemühen wir uns auf unterschiedlichen Wegen, eine Öffentlichkeit für das Thema herzustellen. Wie ich bereits gesagt habe, hat die internationale Staatengemeinschaft kein großes Interesse, diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu untersuchen und zu bestätigen. Da dürfen wir uns keine falschen Hoffnungen machen. Aber durch Gespräche mit Medien, wie vor einigen Tagen in Hannover mit dem NDR oder mit verschiedenen Zeitungen, können wir einen großen Druck aufbauen. Dann kommt die Politik nicht daran vorbei, eine Stellung zu den Informationen zu beziehen. Ich würde mit den Worten schließen, dass wir in jedem Moment hier in Deutschland und Europa versuchen sollten, den Menschen ihre Verantwortung bewusst zu machen, da Schweigen den Krieg gegen die Kurden legitimiert. Die wenigsten Menschen möchten durch ihr Handeln direkt oder indirekt Blut an ihren Fingern haben.