Stuttgart: Politischer Gefangener Veysel S. misshandelt

Der in Stammheim inhaftierte kurdische Aktivist Veysel S. ist aufgrund von Augenproblemen zu einer Ärztin gebracht worden – in Zwangsjacke, Handschellen und Fußfesseln. Begleitet wurde er hierbei von acht Polizisten und Vollzugsbeamten.

Der kurdische Aktivist Veysel S. steht seit April 2019 mit vier Mitangeklagten in einem Prozess nach dem Terrorparagrafen 129a/b StGB in Stuttgart-Stammheim vor Gericht. Die Anklage der Bundesanwaltschaft basiert maßgeblich auf den fragwürdigen Aussagen eines Kronzeugen, der seinen Angaben zufolge für die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) tätig gewesen sein will.

Am 12. November, dem 70. Verhandlungstag, erklärte Rechtsanwalt Martin Heiming, dass sein Mandant Veysel S. bei einem Arztbesuch einer entwürdigenden Behandlung ausgesetzt war. Demnach ist dieser im Rahmen einer seit drei Monaten verschleppten medizinischen Behandlung am 11. November unter Bewachung durch acht bewaffnete Polizisten – offensichtlich einer Spezialeinheit – zu einer Augenärztin gebracht worden. Dabei seien ihm Handschellen bei gegeneinander verdrehten Händen und Fußfesseln angelegt worden, um ihn vollständig bewegungsunfähig zu machen. Zusätzlich seien die Hände in einen engen Sack gesteckt und die Arme mit einem Gürtel am Körper fixiert worden. Auf diese Weise wie ein Paket verschnürt, sei er für den Weg zwischen Gefangenentransporter und Arztpraxis in einen Rollstuhl verfrachtet worden. In dieser Lage sei keine sinnvolle Kommunikation mit der Ärztin möglich gewesen, abgesehen davon, dass auch im Sprechzimmer immer noch vier Polizisten dabei waren, auf der anderen Seite aber kein Dolmetscher anwesend. Veysel S. habe unter diesen Bedingungen seine Beschwerden nicht erläutern können. „Angesichts dieses Vorgehens verschlägt es einem die Sprache“, sagte Rechtsanwalt Heiming vor Gericht.

Stigmatisierung als „Terrorist“ führt zu Ignoranz von Menschenrechten

Das Gericht erklärte sich dazu nicht und übernahm erkennbar keine Verantwortung in eigener Zuständigkeit. Wie Heiming nach der Verhandlung gegenüber Yeni Özgür Politika erklärte, sei die demütigende Behandlung seines Mandanten nicht hinnehmbar. Der Rechtsanwalt kündigte eine Beschwerde bei der Vollzugsleitung an. „Grund für den herabwürdigenden Umgang ist der Paragraf 129 a/b Strafgesetzbuch. Die Stigmatisierung als ‚Terrorist’ führt dazu, dass Menschenrechte schlicht ignoriert werden. Kein anderer Mensch erfährt diese Art von einschüchternder Behandlung. Das ist entwürdigend.“

Prozess musste wegen Rechtsverletzungen zwei Mal unterbrochen werden

Der Stammheimer Prozess gegen die fünf Angeklagten ist von zahlreichen weiteren Rechtsverletzungen geprägt. So wurden diese zum Prozessauftakt am 16. April 2019 zunächst in Glaskäfige gesperrt, wogegen die Verteidigung protestierte. Der Prozess musste zwei Mal unterbrochen werden; am 9. Mai wurde die Maßnahme schließlich aufgehoben. Nach wie vor werden die drei inhaftierten Angeklagten in Handschellen vorgeführt, die erst gelöst werden, wenn das Gericht den Verhandlungssaal betritt. Bei jeder Verhandlungspause werden die Handschellen erneut angelegt und die Angeklagten durchsucht. Es ist auch vorgekommen, dass Veysel S. auf dem Weg in den Gerichtssaal zusätzlich Fußfesseln angelegt wurden.

Monika Morres: Verantwortliche zu Rechenschaft ziehen

Monika Morres vom Rechtshilfefonds für Kurdinnen und Kurden in Deutschland - AZADÎ e.V. mit Sitz in Köln kommentiert die Misshandlung von Veysel S. wie folgt: „Dieser skandalöse, die Menschenrechte von Veysel S. verletzende Vorgang muss rechtliche und politische Konsequenzen haben. Die Behörden des von CDU und Grünen regierten Baden-Württembergs zeichnen sich seit langem dadurch aus, dass sie Kurdinnen und Kurden mit besonderem Eifer kriminalisieren und verfolgen. Mit der entwürdigenden Behandlung des Gefangenen ist aber endgültig die Grenze überschritten. Dieser Fall muss aufgeklärt, die Verantwortlichen in der Justizbehörde müssen benannt und zur Rechenschaft gezogen werden. Wir klagen aber auch die Verantwortlichen in der Landes- wie Bundespolitik an. Sie alle machen Vorfälle wie diese in Stuttgart durch ihre seit 27 Jahren anhaltende Verbots- und Kriminalisierungspolitik möglich. Wir rufen die Öffentlichkeit dazu auf, zu diesem menschenrechtswidrigen Vorfall nicht zu schweigen.“

Kurdischer Verband FCK: Respekt vor Kurden

Auch der in Baden-Württemberg und Bayern aktive kurdische Verband FCK (Föderation der Gemeinschaften Kurdistans in BW-BY) protestiert gegen das unmenschliche Vorgehen gegen kurdische politische Gefangene. „Wir rufen den deutschen Staat dazu auf, von seiner feindlichen Haltung gegen die kurdischen Gefangenen in Stammheim abzusehen“, heißt es in einer Anfang der Woche veröffentlichten Erklärung. Seit dem Erlass des PKK-Verbots im Jahr 1993 seien über eine Million in Deutschland lebende Kurdinnen und Kurden einer Behandlung ausgesetzt, die alle demokratischen Regeln sprenge. Um den türkischen Staat zufrieden zu stellen, werde die Menschenwürde verletzt, wie sich zuletzt an der Misshandlung von Veysel S. in Stammheim gezeigt habe. „Die in Deutschland lebenden und das deutsche Recht respektierenden Kurdinnen und Kurden sind jedoch keine Menschen, die ohne Konsequenzen willkürlich behandelt werden können. Dafür kämpfen aufrechte Menschen wie Veysel S., der als politischer Gefangener vor Gericht die Würde seines Volkes verteidigt. Wir erwarten vom deutschen Staat Respekt gegenüber den selbstlosen Angehörigen eines unschuldigen Volkes.“


Der Artikel ist dem AZADÎ-Info 206 entnommen. Das Info erscheint monatlich als Digitalausgabe auf der Internetseite des Rechtshilfefonds und wird auf Wunsch per E-Mail zugeschickt.