Am 30. April 2021 verurteilte der 3. Strafsenat des OLG Stuttgart nach 91 Hauptverhandlungstagen fünf kurdische Angeklagte zu mehrjährigen Freiheitsstrafen. Die Verteidigung hatte einen weitgehenden Freispruch der fünf Kurd:innen gefordert und dabei auf den lügenden Kronzeugen verwiesen. Dennoch wurde der Hauptangeklagte Veysel S. wegen Mitgliedschaft in der PKK als Regions- und Gebietsleiter von Hamburg, Berlin und Baden-Württemberg und wegen versuchter räuberischer Erpressung, Freiheitsberaubung und gemeinschaftlicher Köperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und drei Monaten verurteilt. Die Angeklagten Özkan T. und Agit K. wurden wegen derselben Taten zu drei bzw. vier Jahren[1] verurteilt, nur, dass die Verurteilung wegen Mitgliedschaft in der PKK durch deren Unterstützung ersetzt wurde. Die Angeklagten Cihan A. und Evrim A. wurden wegen Unterstützung einer ausländischen terroristischen Vereinigung, gefährlicher Körperverletzung und Freiheitsberaubung jeweils zu eineinhalb Jahren auf Bewährung verurteilt.
Trotz dieser hohen und unverhältnismäßigen Strafen stellen sowohl das Urteil wie auch das gesamte Verfahren eine empfindliche Niederlage für die Bundesanwaltschaft (BAW) dar. Die Freiheitsstrafen lagen erheblich unter ihren Forderungen. Noch wichtiger jedoch: Die BAW ist weitgehend mit ihrem Versuch gescheitert, mithilfe eines Kronzeugen in der Öffentlichkeit ein Bild von einer PKK zu erschaffen, die in Deutschland mit Gewalt einen „PKK-Aussteiger“ entführt und ihn einer Paralleljustiz unterwirft, indem sie ihn in einen Keller verschleppt, wo er von drei mit Pistolen bewaffneten und maskierten Männern bedroht und geschlagen und von einem PKK-Kader verhört und beraubt wird.
Diese Erzählung der Bundesanwaltschaft hat sich während des Verfahrens als eine Lügengeschichte ihres Kronzeugen entpuppt und das Verfahren ist zu einem Lehrstück darüber geworden, dass Lüge und falsche Verdächtigungen sich nicht auszahlen und die Verteidigung sogar in Staatsschutzverfahren etwas erreichen kann.
Der verschmähte Liebhaber und das Landeskriminalamt
Das Verfahren hat eine lange Vorgeschichte. Diese hat erst die Verteidigung während des Prozesses herausgearbeitet. Alles beginnt mit einem verschmähten Liebhaber, dessen bisheriges Leben in einer Sackgasse steckt und der seine Zukunft im Zeugenschutz sucht: Dem Kurden Ridvan Ö. Dieser lebt nach einer mehrjährigen Flucht aus dem Irak, die ihn über Griechenland und die Schweiz führt, seit 2015 mit seiner Partnerin und den zwei gemeinsamen Kindern als Asylbewerber in Baden-Württemberg. Im Herbst 2017 beginnt er eine Beziehung mit einer erst vor wenigen Wochen aus der Türkei nach Deutschland geflohenen Kurdin, der späteren Angeklagten Evrim A. Beide Frauen wissen jeweils nichts von der anderen. Als die Beziehung Anfang 2018 auffliegt, trennt sich seine Partnerin von ihm und schmeißt ihn aus der Wohnung. Auch Evrim A. wendet sich von ihm ab. Er versucht deshalb, Evrim A. mit einem Geflecht aus schäbigen Lügen und Manipulationen an sich zu binden. Zugleich bedroht er sie, Bilder von ihr zu veröffentlichen, wenn sie sich von ihm trennt. In dieser Zeit hat er keine Wohnung, keine Arbeit und keinen gültigen Aufenthalt mehr – und keine Menschen, die ihm helfen wollen, weil er alle jeweils mit unterschiedlichen Lügengeschichten gegen sich aufgebracht hat. Aufgrund seiner ausweglosen Situation und in seiner falsch verstandenen Ehre verletzt, entwickelt er den Plan, gegen „die PKK“ und ihre vermeintlichen Aktivisten auszusagen, um so von der Polizei in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen zu werden und sich damit einen sicheren Aufenthalt und Respekt zu verschaffen. Evrim A. will er dabei weiter an sich binden, damit sie mit ihm in den Zeugenschutz geht.
Die Angeklagte Evrim A. im Mai 2020 | © Pervin Yerlikaya
Diesem Plan entsprechend nimmt er Anfang Februar 2018 Kontakt mit der Polizei auf. Er behauptet in einer Vernehmung gegenüber dem LKA Baden-Württemberg, er habe viele Jahre bei den Volksverteidigungskräften – der HPG – im Irak gekämpft, hätte sich dann von diesen getrennt, sei nach einer Zeit im Irak nach Griechenland geflohen, wo er wieder für die PKK aktiv geworden sei; das gleiche gelte für seinen nächsten Fluchtort, die Schweiz. In Deutschland schließlich sei er Verantwortlicher des PKK-Raums Bruchsal gewesen, wo er unter anderem für die Spendensammlungen verantwortlich gewesen sei. Dann habe er die PKK verlassen wollen, doch habe der Regionsverantwortlich „Ciya“, dies soll der Veysel S. sein, dies nicht zugelassen und ihn bedroht, falls er nicht weiter für die Partei arbeite.
Das LKA ist an dieser Geschichte und seinen Unterlagen über Spendensammlungen allerdings nur mäßig interessiert. Man gibt ihm zu verstehen, dass man ihm nicht glaube, dass Aktivisten, die nicht mehr für der PKK arbeiten wollen, bedroht und zum Weitermachen gezwungen würden und man ansonsten schon recht gut wisse, dass die PKK in Deutschland Spenden sammle. Dementsprechend leitet das LKA nur ein Ermittlungsverfahren wegen Mitgliedschaft in der PKK gegen ihn ein – er hat ja angegeben, Raumverantwortlicher gewesen zu sein – und unternimmt ansonsten nichts für ihn. Lediglich wird ihm zu verstehen gegeben, er könne wiederkommen, wenn ihm seitens der PKK Gewalt widerfahren würde.
So steht Ridvan Ö. Anfang April 2018 immer noch ohne alles da. Weder hat er von der Polizei – wie er erbeten hatte – einen Aufenthalt, eine Wohnung oder Arbeit bekommen, noch ist er in den Zeugenschutz aufgenommen worden. Und dann trennt sich auch noch Evrim A., seine Freundin, endgültig von ihm. Er kommt notdürftig bei einem Freund unter. Von dort aus bedrängt er Evrim A. weiter, sie solle doch zu ihm zurückkommen. Diese hat jedoch nur einen Gedanken, nämlich, sich vor ihm und seinen Lügen und Drohungen zu schützen. Sie wendet sich deshalb an die kurdischen Strukturen und bittet, es solle Ridvan Ö. klar gemacht werden, dass er sich zukünftig von ihr fernhalten und nicht weiter schaden solle.
Das Treffen
In der Folge kommt es – so die Sicht der Verteidigung – am 13. April 2018 zu einem Zusammentreffen zwischen Ridvan Ö. und drei weiteren kurdischen Männern, den späteren Angeklagten Özkan T., Agit K. und Cihan A. Dieses Treffen findet auf dem Schlossberg in Herrenberg statt, wohin Evrim A. den Ridvan Ö. an jenem Tag gebracht hat. Dort warten die drei Männer auf ihn. Die Stimmung gegen den uneinsichtigen Ridvan Ö. ist aggressiv. Jedoch einigt man sich schließlich und fährt zusammen in ein Restaurant in Ebersbach, das einem der Männer gehört. Dort stößt spontan Veysel S. hinzu. Ridvan Ö. wird in dem Restaurant unmissverständlich klar gemacht, dass er sich in Zukunft von Evrim A. fernhalten soll. Außerdem wird sein Mobiltelefon nach Bildern der Kurdin durchsucht, mit denen er versuchte, sie zu „erpressen“. Am Abend trennt man sich einvernehmlich und bringt Ridvan Ö. dann zum nächst gelegenen Bahnhof.
Wie aus dem Treffen eine gewaltsame Entführung wird
Nur wenige Stunden später tischt Ridvan Ö. der Polizei ein Szenario auf, das aus einem Mafiafilm hätte stammen können, mit dem Ablauf am 13. April 2018 aber nur wenig zu tun hat: Er sei geschlagen, gewaltsam entführt, in einen Keller gesperrt und von maskierten und bewaffneten Männern bedroht und dort wieder geschlagen worden und all dies nur, weil er nicht mehr für die PKK aktiv sein wolle und man vermutet habe, er arbeite mit der Polizei zusammen. Belegen soll diese rüde Gewalttat ein Kratzer, den Ridvan Ö. an seinem Hals präsentiert. Diese Räuberpistole beschert ihm den ersehnten Zeugenschutz und setzt umfangreiche Ermittlungen in Gang, die in der Festnahme der fünf nunmehr Verurteilten im Juni und Juli 2018 münden.
Diese Gelegenheit zur weiteren Kriminalisierung der PKK will sich die Bundesanwaltschaft offensichtlich nicht entgehen lassen, obwohl die Angaben von Ridvan Ö. schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt zahlreiche Widersprüche und Ungereimtheiten aufweisen. Entsprechend werden in den Haftbefehlen dessen absurde Behauptungen schlicht übernommen. Diese lesen sich in der ersten Presseerklärung der Bundesanwaltschaft zur Festnahme von vier der fünf späteren Angeklagten wie folgt:
[…] 2. Veysel. S., Agit K., Cihan A. und Evrim A. kamen überein, ein ehemaliges Mitglied der „PKK“ zu entführen und ihn unter Androhung seiner Tötung zu einer Weiterarbeit für die Vereinigung zu zwingen. […] Vor diesem Hintergrund lockte Evrim A. den Geschädigten am 12. April 2018 unter einem Vorwand zu einem abgelegenen Ort in der Nähe von Stuttgart. Dort wurden sie bereits von Cihan A., Agit K. sowie von zwei weiteren Personen erwartet. Nachdem sie den Geschädigten erfolglos aufgefordert hatten, in ein Kraftfahrzeug einzusteigen, zerrten sie ihn mit Gewalt dort hinein. Zudem versetzten sie dem Geschädigten zahlreiche Schläge. Während Evrim A. am Treffpunkt verblieb, brachten Cihan A., Agit K. sowie die beiden anderen Personen den Geschädigten in eine von dem Beschuldigten Cihan A. im Landkreis Göppingen betriebene Gaststätte. Dort übergaben sie den Geschädigten an Veysel S. sowie drei maskierte und mit Pistolen bewaffnete Personen. Sodann befragte Veysel S. den Geschädigten über einen Zeitraum von vier Stunden. Insbesondere wollte er in Erfahrung bringen, warum sich der Geschädigte von der „PKK“ losgesagt hatte und ob er mit der Polizei zusammengearbeitet habe. Des Weiteren forderte Veysel S. ihn auf, Unterlagen über Spenden an die „PKK“ herauszugeben. Um seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen, ließ Veysel S. den Geschädigten von den maskierten Männern wiederholt schlagen. Außerdem drohte Veysel S. dem Geschädigten mit dem Tod, falls er die Weiterarbeit für die „PKK“ auch zukünftig ablehnen oder er sich an die Polizei wenden werde. Schließlich durchsuchte einer der maskierten Männer die Taschen des Geschädigten und nahm dessen mitgeführtes Bargeld in Höhe von mehreren Hundert Euro an sich.“[2]
Der neue Hochsicherheitssaal des OLG Stuttgart in Stammheim: Ein Glaskäfig | © Pervin Yerlikaya
Das politische Ziel, das die Bundesanwaltschaft mit dieser Erzählung und dem Verfahren verfolgt, wird in einem Beitrag der „Tagesschau“ vom 15. November 2018 offengelegt. Diese nahm die Auslieferung des später fünften Angeklagten aus Frankreich zum Anlass, sich mit dem Verfahren unter der Überschrift „Kurden in Deutschland. Wie radikal ist die PKK?“ zu beschäftigen:
„Am Montag wurde ein 31-jähriger türkischer Staatsbürger von Frankreich an Deutschland überstellt. Er soll im Frühjahr mit vier Komplizen ein ehemaliges PKK-Mitglied entführt, geschlagen und bedroht haben. Laut Bundesanwaltschaft wollte die Gruppe in Erfahrung bringen, warum der Aussteiger sich von der PKK losgesagt hatte und ob er mit deutschen Behörden gegen die PKK zusammenarbeitet.
Solche Einschüchterungen, berichtet ein Insider im Gespräch mit tagesschau.de, seien in den 1980er- und 1990er-Jahren bei hochrangigen Mitgliedern, die sich von der PKK trennten, häufiger vorgekommen. Damals habe die PKK sogar die Abtrünnigen selbst für Verräter erklärt, nach ihnen gefahndet und sie bestraft – auch in Deutschland. In den vergangenen Jahren habe es keine innerparteiliche Opposition mehr in der PKK gegeben, daher auch keine Verfolgung, erklärt die Quelle.“[3]
Man kann getrost davon ausgehen, dass die namenlosen „Insider“, die mit der „Tagesschau“ gesprochen haben, in den deutschen Strafverfolgungsbehörden sitzen und diesen Artikel angestoßen haben. Auch der Verfassungsschutz ist dankbar für die Erzählung, die PKK übe massive Gewalt gegen ein „abtrünniges Mitglied“ aus. So wurden die Behauptungen von Ridvan Ö. in den Jahresberichten 2018 des Verfassungsschutzes Baden-Württemberg und des Bundesamtes für Verfassungsschutz umgehend aufgegriffen und ausführlich dargestellt.
Um diese Geschichte erzählen zu können, musste die Bundesanwaltschaft zum einen eine Allianz mit dem windigen Ridvan Ö. eingehen. Der Zeuge instrumentalisierte die Bundesanwaltschaft für seine Ziele – Aufnahme in den Zeugenschutz und Rache an Evrim A. –, und diese nutzte den Zeugen, solange wie sie ihn brauchte, um behaupten zu können, die Aktivitäten für die PKK erfolgten nicht freiwillig und die PKK übe Gewalt gegen ihre ehemaligen Mitglieder aus. Zum anderen musste die BAW die vielen Widersprüche ignorieren, in die sich ihr Zeuge verstrickte und ebenso, dass seine Geschichte – wie sie nur zu gut wusste – weder zur statuierten noch gelebten Praxis der PKK in Deutschland passte. Die PKK hatte Mitte der 1990er Jahre ausdrücklich ein Gewaltverzicht für Deutschland erklärt.
Doch scheinen all diese Schritte aus Sicht der Bundesanwaltschaft notwendig zu sein, um der gegenüber den kurdischen Kämpfer:innen immer positiver werdenden öffentlichen Meinung etwas entgegenzusetzen. So wurde es in den letzten Jahren immer schwieriger, das PKK-Verbot in der Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Spätestens ab 2014 war in das allgemeine Bewusstsein gedrungen, dass HPG und die kurdisch-nordsyrischen YPG/YPJ die Hauptlast im Kampf gegen die Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) tragen und dass sie es waren, die unter Einsatz ihres Lebens die Ezid:innen in Sindschar (Şengal) vor dem IS verteidigten hatten, und dass es die Türkei war, die in Syrien und dem Irak gegen Völkerrecht verstieß. Es wurde immer offenkundiger, dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan ein diktatorisches System installiert hat, das nicht nur jegliche politischen Aktivitäten von Kurd:innen mit massiver Repression beantwortete und unterband, sondern den IS aktiv unterstützte.
Inszenierte Gefährlichkeit der PKK in Deutschland
Die Bundesanwaltschaft und das LKA taten alles, um eine angebliche Gefährlichkeit der fünf Angeklagten und damit auch der PKK zur Schau zu stellen. Die im Dezember 2018 erhobene und sich fast ausschließlich auf die Angaben des Ridvan Ö. stützende Anklage war eine maximale Drohgebärde: Die Angeklagten Veysel S., Özkan T. und Agit K. wurden beschuldigt, Mitglied in bzw. Unterstützer der PKK zu sein und zugleich u.a. einen erpresserischen Menschenraub und eine gefährliche Körperverletzung begangen zu haben. Allein der erpresserische Menschenraub, der auf die Behauptung des Kronzeugen zurückgeht, man habe ihm im Restaurant Geld abgenommen, ist mit einer Mindeststrafe von fünf Jahren bedroht. Wäre die BAW mit dieser Anklage durchgekommen, hätte den Angeklagten die Verhängung von Freiheitsstrafen von sechs bis acht Jahren gedroht.
Ridvan Ö. war schon zuvor – und zwar umgehend nach seinen Gewaltbehauptungen – in das Zeugenschutzprogramm des LKA aufgenommen worden. Trotz unzähliger und massiver Regelverstöße wurde er solange im Zeugenschutz belassen, bis er seine Aufgabe, die Belastung der Angeklagten – und damit der PKK –, erledigt hatte. Er wurde sogar zu seinen ersten Vernehmungen in der Hauptverhandlung vor dem OLG Stuttgart mit einem Hubschrauber eingeflogen und mit Maschinengewehren bewaffnete Sicherheitskräfte bewachten ihn. Eine absurde Inszenierung, die höchstens dazu geeignet war, den politischen Charakter des Verfahrens offenzulegen. Erst nachdem seine Vernehmung beendet war, wurde er wegen erneuter Regelverstöße aus dem Zeugenschutz entlassen. Man brauchte ihn nicht mehr.
Weiterhin wurde die angebliche Gefährlichkeit der Angeklagten durch die Verhandlung in dem faktisch mit diesem Verfahren eröffneten neuen Hochsicherheitssaal des OLG Stuttgart in Stammheim unterstrichen. Das alte sogenannte Mehrzweckgebäude, in dem die Verfahren gegen die Mitglieder der RAF stattgefunden hatten, wurde durch einen modernen Bau mit zwei Verhandlungssälen ersetzt. Doch auch auf diesen neuen Bau passt das Diktum der RAF-Verteidiger von dem in Beton gegossenen Vorurteil: Das neue Hochsicherheitsgebäude kennt faktisch nur den inhaftierten Angeklagten, für Angeklagte auf freiem Fuß ist es nicht ausgelegt. Die Sitzungssäle und die Zellen sind so gestaltet, dass Angeklagte während des gesamten Prozesses vollständig von ihren Verteidiger:innen getrennt sind: Sie sollen im Sitzungssaal in einem Glaskäfig sitzen und mit ihren Anwält:innen nur über Mikrophone kommunizieren. Selbst in den Vorführzellen sind Angeklagte und Verteidiger:innen bereits baulich durch eine Glaswand getrennt. Diese automatische und vollständige Trennung von Verteidiger:in und Mandant:in behindert nicht nur die Verteidigung, sondern sie ist rechtswidrig. Die Strafprozessordnung sieht dies nur für bestimmte Fälle vor und sie muss ausdrücklich vom Gericht angeordnet werden. Außerdem führt die automatische Platzierung der Angeklagten hinter der Glaswand zu einer Stigmatisierung und Vorverurteilung: Es wird der Öffentlichkeit demonstriert, sie seien so gefährlich, dass sie selbst von ihren Verteidiger:innen getrennt werden müssten.
Erfolgreiche Intervention gegen Stigmatisierung der Angeklagten hinter Glasscheibe | © Pervin Yerlikaya
Diese Art der Vorverurteilung hat die Verteidigung nicht hingenommen. Der erste Prozesstag am 16. April 2019 war von den Versuchen der Angeklagten und Verteidiger:innen bestimmt, diese Verhandlungssituation zu verbessern. Özkan T. ließ zum Beispiel ausdrücklich erklären, er werde nicht an der Verhandlung teilnehmen, solange er hinter der Scheibe sitzen müsse und stigmatisiert werde. Nach mehreren Anträgen und einem Befangenheitsantrag, wurde das Verfahren zwar nicht in ein anderes Gerichtsgebäude verlegt, jedoch saßen die Angeklagten am übernächsten Hauptverhandlungstag bereits neben ihren Verteidiger:innen. Dies war der erste Schritt, die Inszenierung der Strafverfolgungsbehörden, man hätte es mit besonders gefährlichen Angeklagten zu tun, zu durchbrechen.
Dieser Prozessauftakt setzte den Ton in dem Verfahren. Mit derselben Entschlossenheit, wie die Angeklagten die vorverurteilende Sitzungsordnung zurückgewiesen hatten, griffen sie durch ihre Verteidiger:innen bei allen Gelegenheiten das abstruse Anklagekonstrukt der Bundesanwaltschaft an: Die Erzählung von der PKK, die in Deutschland ihre „abtrünnigen“ Kader entführt und mit massiver Gewalt gegen sie vorgeht.
Demontage des Kronzeugen
Das stärkste Argument der Verteidigung war der Kronzeuge selber. Schon vor seiner Zeugenvernehmung beim OLG thematisierte die Verteidigung die Widersprüchlichkeit und Absurdität seiner Angaben zu den konkret behaupteten Geschehnissen. Der Kronzeuge wurde dann an insgesamt 22 Hauptverhandlungstagen vom Senat, dem Vertreter des Generalbundesanwalts und zwei der zehn Verteidiger:innen vernommen. Die übrigen Verteidiger:innen konnten ihn nicht mehr befragen, weil er am 10. Januar 2020 von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch machte, er also angab, er habe Sorge, sich durch seine weitere Aussage selber zu belasten. Dieses Recht stand ihm zu, weil gegen ihn – wie dargestellt – ein Strafverfahren wegen der Mitgliedschaft in der PKK gem. § 129b StGB eingeleitet worden war. Doch war es augenscheinlich nicht dieses Verfahren, das seiner Redefreude ein Ende setzte. Vielmehr verlor er das Interesse an seiner Aussage, nachdem die Angeklagte Evrim A. nach eineinhalb Jahren aus der Untersuchungshaft entlassen worden war. Damit war auch ihm deutlich geworden, dass seinem Rachefeldzug gegen Evrim A. erst einmal ein Ende gesetzt worden war.
Er demontierte sich allerdings bereits zuvor in der Vernehmung selbst. Bereits die Befragungen durch Senat und BAW förderte ganz unfreiwillig viele der Falschbelastungen des Zeugen zu Tage und ließen dessen Fähigkeit, spontan und geschmeidig erfundene Geschichten zu erzählen, deutlich werden. Dass seine Angaben unglaubhaft waren, konnte selbst der Senat nicht mehr ignorieren: In einem an die Verfahrensbeteiligten gerichteten Hinweis stellte der Senat im Dezember 2019 fest, dass er Ridvan Ö. zumindest nicht mehr glaube, dass er in dem Restaurant in einen Keller eingesperrt und unter Anwesenheit von drei mit Pistolen bewaffnete und maskierte Männer durch den Regionsverantwortlichen verhört und bedroht worden sei. Zugleich machte der Senat deutlich, er werde dem Zeugen nur solche Behauptungen glauben, die durch andere „gewichtige Beweismittel“ belegt seien.
In seiner mündlichen Urteilsbegründung bezog sich der Vorsitzende neben der Aussage des Ridvan Ö. auf abgehörte Telefongespräche, DNA- und Faserspuren, jedoch belegten diese gerade nicht Behauptungen des Kronzeugen bzw. standen diesen sogar zum Teil entgegen.
Auswechslung des Motivs
Ebenfalls wurde durch die Befragung des Zeugen offenkundig, dass die Geschichte von Ridvan Ö., er sei vor allem deshalb entführt worden, weil er sich von der PKK gelöst habe und man ihn zur Weiterführung seiner Kadertätigkeit habe zwingen wollen, völlig unglaubhaft ist. Um zumindest den Kern der Anklage zu retten, wusste der Senat sich nicht anders zu helfen, als das Motiv für die angebliche Entführung einfach auszutauschen. Er stocherte dabei jedoch im Nebel. In einer ersten Korrektur der Anklage nahm der Senat an, Hintergrund der „Entführung“ sei die Unterschlagung von Spendengeldern in Höhe von 20.000 Euro durch Ridvan Ö. gewesen. Dies behauptete der Senat, obwohl die Anklage noch davon ausgegangen war, dass er kein Geld unterschlagen habe. Und obwohl dieser aller Versuche des Gerichts zum Trotz bis zuletzt dabei blieb, er habe keine Spenden veruntreut – wofür auch seine unzähligen Schulden sprechen. Nachdem die Verteidigung jedoch nachgewiesen hatte, dass diese Annahme nicht mit den vorliegenden Beweisen übereinstimmte, sollte nunmehr der ungeklärte Verbleib von Spendengeldern in Höhe von 20.000 Euro das Motiv sein. Als die Verteidigung auch diese Behauptung angriff, trug der Vorsitzende Richter in der mündlichen Urteilsbegründung eine dritte Version vor: Ridvan Ö. sei „entführt“ worden, um den Verbleib von 14.700 Euro Spendengeldern zu klären.
Obwohl aufgrund dieses offenkundig unglaubwürdigen Zeugen keiner der Angeklagten hätte verurteilt werden dürfen, ging es dem Senat im Sinne eines Anklägers darum, eine angebliche Tatversion zu finden, die die Verteidigung mit den vorhandenen Beweismitteln nicht mehr widerlegen konnte.
Auswechslung der Taten
Dasselbe Handlungsmuster findet sich in Bezug darauf, was die Angeklagten konkret getan haben sollen. Wie dargestellt, stützte sich der Vorwurf des erpresserischen Menschenraubes in der Anklage allein auf die wortreichen, aber widersprüchlichen Schilderungen des Kronzeugen bei der Polizei, wie ihm angeblich 300 Euro im Restaurant von drei Angeklagten abgenommen worden sein sollen. Die Beweisaufnahme ergab hingegen, dass diese Behauptung schlicht nicht stimmen konnte. Damit fiel jedoch auch das Delikt mit der schärfsten Strafandrohung weg, und es wäre von dem in der Anklage behaupteten Szenario nicht mehr viel übriggeblieben.
Deshalb entschied der Senat – nachdem Ridvan Ö. bereits förmlich aus seiner Zeugenstellung entlassen worden war -, den Vorwurf des erpresserischen Menschenraubs einfach durch eine angeblich versuchte räuberischer Erpressung zu ersetzen. Dieses Delikt war in der Anklage nicht enthalten, erschien dem Senat aber nunmehr als einziger Ausweg. Nunmehr sollten also Veysel S., Özkan T. und Agit K. dem Kronzeugen kein Geld mehr abgenommen haben. Stattdessen sollen sie ihn unter Drohungen aufgefordert haben, Spendengelder in Höhe von 20.000 Euro herauszugeben.
Obwohl es auch für die Behauptung dieser versuchten räuberischen Erpressung nicht mehr als die widersprüchlichen Angaben von Ridvan Ö. gab, verurteilte der Senat drei der Angeklagten wegen dieser angeblichen Tat. Die Beweisaufnahme hatte diese Behauptung aus Sicht der Verteidigung nicht nur nicht bestätigt, sondern widerlegt. Die Verurteilung kann also nur so verstanden werden, dass der Senat sich den politischen Interessen der Bundesanwaltschaft gebeugt hat. Denn weitere „gewichtige Beweise“, die diese neue These des Senats stützen würden, hat die Beweisaufnahme gerade nicht ergeben. Wenn sich also schon der erpresserische Menschenraub als Phantasiegeschichte des Kronzeugen herausstellte, hätte dies ebenfalls für die Behauptung einer versuchten räuberischen Erpressung gelten müssen.
Solidarische Prozessbegleitung, September 2020 | © Pervin Yerlikaya
Ein angehängter Mord und andere erfundene Beschuldigungen
Die Hauptverhandlung hat auch weitere große und kleine Lügen des Zeugen sowie auch seinen unbedingten Willen, den angeblichen Regionsverantwortlichen Veysel S. zu belasten, zu Tage gefördert: Ridvan Ö. hatte gegenüber der Polizei und in der Hauptverhandlung detailreich – wenn auch widersprüchlich – behauptet, Veysel S. sei ebenfalls im Irak bei der PKK-Guerilla gewesen, man habe sich von damals gekannt und er – der Zeuge – sei selbst dabei gewesen, als Veysel S. als Kommandant den Befehl gegeben habe, einen Spitzel zu erschießen. Er bezichtigte also Veysel S. eines Tötungsdelikts, um seiner Geschichte von einer gewaltsamen, angeblich von Veysel S. organisierten Entführung mehr Glaubhaftigkeit zu verleihen.
Veysel S. konnte nur durch die Tragik seiner Biografie diese Lüge widerlegen: Er war nämlich zu der Zeit, als er angeblich PKK-Kommandant in den Bergen gewesen sein soll, tatsächlich in einem türkischen Gefängnis in Untersuchungshaft wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in der PKK – ein Vorwurf, von dem er später freigesprochen wurde. Offenkundig glaubte auch die Bundesanwaltschaft dem Kronzeugen von Anfang an diese Bezichtigung nicht, da kein Ermittlungsverfahren wegen eines Tötungsdelikts gegen Veysel S. eingeleitet wurde. Aber um den Zeugen der Anklage zu schützen, wurde seitens der Bundesanwaltschaft auch kein Verfahren gegen diesen wegen Falschaussage und falscher Verdächtigung eingeleitet.
Bei weiteren von dem Zeugen Ö. behaupteten Straftaten, die er im Auftrag von Veysel S. begangen haben will – wie angebliche durch Veysel S. angeordnete Spendengelderpressungen – wurden zwar formal Ermittlungsverfahren eingeleitet, diese jedoch sehr oberflächlich geführt und schnell eingestellt. Offenbar scheute die Bundesanwaltschaft hier jeden Aufwand, da auch die Vertreter des Generalbundesanwalts die Aussagen des Zeugen Ö. für nicht belastbar hielten.
Auch dieser im Ermittlungsverfahren und in der Hauptverhandlung offensichtlich gewordene grenzenlose Belastungseifer gegenüber Veysel S. hätte ausreichen müssen, um Ridvan Ö. für insgesamt nicht glaubwürdig zu befinden. Stattdessen stützte die BAW ihre gesamte Anklage auf dessen Aussagen und der Senat seine Verurteilungen.
Beweismittelmanipulation
Die Ermittlungen der BAW und des LKA waren ausschließlich auf eine Bestätigung der Behauptungen von Ridvan Ö. gerichtet. Objektive Ermittlungen, die die Angaben des Zeugen kritisch hinterfragt hätten, hat es nicht gegeben. Dies mussten die Polizeizeug:innen auf entsprechende Nachfragen der Verteidigung ein ums andere Mal in der Hauptverhandlung einräumen.
Dies zeigt sich beispielsweise daran, dass das einzige Dokument, mit dem Ridvan Ö. überhaupt seine Identität nachweisen konnte – ein in Griechenland ausgestellter Führerschein –, offenkundig „unecht oder gefälscht“ war. Auf Antrag der Verteidigung wurde das auch durch einen Beschluss des Gerichts festgestellt. Ermittlungsbehörden wie Senat hatten diesem Umstand zuvor keinerlei Beachtung geschenkt. Bis heute ist also unklar, ob die Identität von Ridvan Ö., der in Deutschland als Ridvan O. registriert ist, überhaupt richtig ist. Das einzige, was wir – allerdings auch nur von dem Kronzeugen selbst – wissen, ist, dass er bzw. die Person „Ridvan Ö.“ im türkischen Personenstandsregister als tot eingetragen sein soll. Selbst die Mutter seiner Kinder sagte bei ihrer Zeuginnenanhörung, nach all seinen Lügen sei sie heute nicht mehr sicher, wer dieser Ridvan Ö. eigentlich sei. Doch sah der Senat hier keinen weiteren Aufklärungsbedarf: Ein fragwürdig nachlässiger Umgang mit gerade dem Zeugen, auf den sich die Anklage ausschließlich stützt.
Genauso verhält es sich mit einem angeblichen Beweismittel, das der Zeuge schon in seiner ersten polizeilichen Vernehmung – nur wenige Stunden nach der angeblichen Tat – vorlegte: Einen Zettel, auf den Veysel S. ihm im Zuge der „Entführung“ eine Telefonnummer geschrieben haben soll. Er forderte die Polizei auf, diesen Zettel auf Spuren von Veysel S. untersuchen zu lassen. In der Hauptverhandlung stellte sich heraus, dass nicht Veysel S., sondern er selbst die Telefonnummer auf den Zettel geschrieben hatte. Ridvan Ö. war also so berechnend, dass er nur wenige Stunden nach der ihn angeblich in Angst und Schrecken versetzenden Tat ein vermeintliches Beweismittel hergestellt und dies zum scheinbaren Beleg seiner Behauptungen der Kriminalpolizei vorgelegt hatte. Beide Umstände hätten sehr leicht von der Polizei im Ermittlungsverfahren erkannt werden können – wenn denn die Behauptungen des Zeugen einmal kritisch bewertet worden wären. Sie hätten nur einen Schluss zugelassen: Der Zeuge ist nicht glaubwürdig und eine Anklage kann nicht auf ihn gestützt werden.
Bedrohungen aus dem Zeugenschutz heraus
Das von Ridvan Ö. behauptete Entführungsszenario hatte zur Folge, dass das LKA eine umfassende Telefonüberwachung veranlasste, so unter anderem die Überwachung des Mobiltelefons der Angeklagten Evrim A. Dort konnte die Polizei mithören und förmlich miterleben, wie der Kronzeuge weiterhin auf verschiedensten Wegen – über Telefon, social media und über dritte Personen – Kontakt mit Evrim A. aufnahm, sie massiv bedrohte und ihr sogar faktisch die bevorstehenden Festnahmen ankündigte. Er sagte ihr mehrfach, dass er dafür sorgen werde und könne, dass sie für acht Jahre ins Gefängnis gehe und ihr einziger Ausweg sei, wieder zu ihm zurückzukehren und mit ihm in den Zeugenschutz zu gehen. Bei Evrim A. lösten diese Bedrohungen regelrechte Panik aus – was vom Ridvan Ö. beabsichtigt war. Das LKA hingegen interessierte sich nicht für die Bedrohung einer Beschuldigten durch den eigenen Kronzeugen, weil dies die Verfahrensmaxime der Ermittlungsbehörden, nämlich der PKK in Deutschland einen erheblichen Schlag zu versetzten, nur unnötig gefährdet hätte.
Zuschauer:innen bei der Urteilsverkündung am 30. April | © Pervin Yerlikaya
Keiner der in der Hauptverhandlung vernommenen Polizeibeamt:innen gab an, dass auch nur irgendetwas unternommen worden sei, um das Verhalten des Zeugen zu unterbinden. Vielmehr setzten LKA und Bundesanwaltschaft alles daran, das eigentliche Aussagemotiv des Kronzeugen zu ignorieren, nämlich in den Zeugenschutz aufgenommen zu werden und Rache an seiner Ex-Freundin zu üben, um sie kontrollieren zu können. Der Kronzeuge konnte sich darauf verlassen, dass die patriarchalen Deutungsmuster auch bei den Strafverfolgungsbehörden tief sitzen und ihm in die Hände spielen würden.
Keine Angst im Zeugenschutz
Die einzige kritische Maßnahme der Strafverfolgungsbehörden gegenüber Ridvan Ö. war, auch die vielen von ihm selbst genutzten Telefone abzuhören. Aus dieser Telefonüberwachung ergab sich, dass er von vielen verschiedenen Nummern aus täglich stundenlang mit Personen in Deutschland und in der Türkei telefonierte. Schon allein aufgrund seiner Telefonate wäre es leicht gewesen, seine ihm vom Zeugenschutz zugewiesene Unterkunft, eine Pension, ausfindig zu machen. Er nutzte nämlich auch das Festnetztelefon der Pension, deren Nummer für die Gesprächspartner sichtbar war, und deren Eingabe bei Google sofort die Pension anzeigte.
Auch hatte er mit einer Vielzahl von Personen telefonischen und persönlichen Kontakt, von denen viele zur kurdischen Community aus Baden-Württemberg gehörten. Ihnen gegenüber trat er sogar mit seinem angeblichen PKK-Decknamen auf. Im Gespräch mit dem LKA leugnete er diese vielfältigen Kontakte. Über die Telefonüberwachung wusste das LKA jedoch, dass er sogar im Zeugenschutz mit kurdischen Patrioten unter seinem „Decknamen“ Kontakt hatte. So verhält sich keine Person, die tatsächlich vor „der PKK“ Angst hat.
Schlussendlich war der Kronzeuge so überzeugt von sich und so enttäuscht von der mangelnden Aufmerksamkeit, die ihm seitens des LKA im Zeugenschutz entgegengebracht wurde, dass er sich im Sommer 2019 beim LKA beschwerte. Er habe keine Lust mehr, sich mit Aushilfsjobs und dem wenigen Geld des LKA über Wasser halten zu müssen. Vielmehr würde er jederzeit als Informant für das LKA in Sachen PKK im In- und Ausland tätig werden können, natürlich gegen eine angemessene Bezahlung. Auch dieses Verhalten des Zeugen hätte Anlass sein müssen, ihn umgehend aus dem Zeugenschutz zu entlassen. Nicht nur, dass er offensichtlich entgegen seinen Beteuerungen keine Angst hatte, sondern er verstieß massiv gegen die Regeln des Zeugenschutzes.
Das Interesse des LKA, ihn im Zeugenschutz zu behalten, bis er in allen Verfahren, für die er vorgesehen war, ausgesagt hatte, war jedoch größer. Die BAW und das LKA brauchten die Inszenierung der angeblichen massiven Bedrohungslage des Zeugen durch die PKK, um ihrer Anklage, dem Entführungsszenario am 13. April 2018, Plausibilität zu verleihen. Dafür musste der Ridvan Ö. im Zeugenschutz verbleiben. Im Juli 2020, nach dem Ende seiner Aussagen, wurde er aus dem Zeugenschutz entlassen. Nunmehr steht die Verhandlung in seinem eigenen Strafverfahren an. Dieses wird im Juli 2021 vor demselben Senat des OLG Stuttgart stattfinden, der auch das Urteil in dem hiesigen Verfahren gesprochen hat.
Ausblick
Die Bundesanwaltschaft hat mit diesem Verfahren zwar ihr Ziel erreicht, die Angeklagten zu hohen Haftstrafen verurteilen zu lassen. Gleichzeitig ist es ihr jedoch nicht gelungen, ihrer Erzählung von der ach so gefährlichen PKK zum Durchbruch zu verhelfen. Ihr Kronzeuge Ridvan Ö. hat sich selbst und damit auch die ihm blind folgende Bundesanwaltschaft vor Gericht faktisch lächerlich und damit ein äußerst zweifelhaftes Handeln des Generalbundesanwalts öffentlich gemacht. Wer es nötig hat, sich solcher Zeugen zu bedienen und Ermittlungen so einseitig und distanzlos zu führen, ist in einer schwachen Position. Die Bundesanwaltschaft wird sich früher oder später der Frage nicht mehr entziehen können, dass die Strafverfolgung von Kurd:innen unter dem Vorzeichen des angeblichen Terrorismus der PKK rechtlich und auch politisch nicht mehr haltbar ist. Die Entscheidung des belgischen Kassationshofes macht es mehr als deutlich: Auch Deutschland muss seine bisherige Rechtsprechung ändern, die den tatsächlichen Gegebenheiten des Krieges, den das Erdoğan-Regime gegen die Kurd:innen führt, juristisch nicht mehr gerecht wird. Das belgische Gericht hat rechtlich vollkommen nachvollziehbar festgestellt, dass den Volksverteidigungskräften, also HPG, der Kombattantenstatus in einem nicht-internationalen bewaffneten Konflikt zuzuerkennen ist und damit die PKK/HPG nicht unter das Terrorismusstrafrecht fällt. Konsequenterweise ist die PKK damit auch von der EU-Terrorliste zu streichen.
[1] Unter Einbeziehung einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zwei Monaten aus einem anderen Verfahren.
[2] Presseerklärung der Bundesanwaltschaft vom 22.06.2018: „Festnahme eines mutmaßlichen Mitglieds sowie dreier mutmaßlicher Unterstützer der ausländischen terroristischen Vereinigung „Arbeiterpartei Kurdistans PKK)“, https://www.generalbundesanwalt.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2018/Pressemitteilung-vom-22-06-2018.htm-l?nn=478298
[3] Tagesschau.de: „Kurden in Deutschland Wie radikal ist die PKK?“, https://www.tagesschau.de/inland/pkk-129.html, Stand: 15.11.2018 03:02 Uhr.
Der Text ist dem AZADÎ-Infodienst für Mai entnommen