IHD: Eskalation der Gewalt in Nordkurdistan

Die Zweigstelle des Menschenrechtsvereins IHD in Amed hat einen Bericht über die Menschenrechtsverstöße in der ersten Hälfte des Jahres 2020 in Nordkurdistan veröffentlicht. Die Lage ist erschreckend.

Die Zweigstelle des Menschenrechtsvereins IHD (türk. İnsan Hakları Derneği) in Amed (Diyarbakir) hat ihren Halbjahresbericht über Menschenrechtsverstöße in Nordkurdistan vorgelegt. Der Bericht für den Zeitraum vom Januar bis Juni 2020 dokumentiert eine lange Reihe schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen, die das Fehlen von Rechtsstaatlichkeit in der Türkei vor Augen führen. IHD-Vizevorsitzende und Rechtsanwältin Rehşan Bataray Saman äußerte bei der Vorstellung des Berichts, dass das Insistieren auf einer autoritären, gewaltsamen und spannungsfordernden Herangehensweise an die kurdische Frage ein erschreckendes und konfliktreiches Umfeld geschaffen habe, welches das gesellschaftliche Leben erheblich zum Nachteil beeinflusst. „Die Auswirkungen dies Konfliktumfeldes lassen sodann Menschenrechtsverletzungen eskalieren und heizen Folter und unmenschliche Behandlung, Angriffe auf das Demonstrations- und Versammlungsrecht sowie die Meinungs- und Pressefreiheit, Gewalt gegen Frauen und Kinder sowie Verluste wirtschaftlicher oder sozialer Rechte weiter an.“ Die türkische Justiz bezeichnete Saman als „nicht unabhängig vom Staat“ und führte als Beispiel die jüngsten Festnahmen und Verhaftungen von Politikerinnen und Aktivistinnen an. Da eine baldige Wiederherstellung der Neutralität anzuzweifeln sei, dürften Grundrechte und Freiheiten wie das Recht auf persönliche Sicherheit und Organisation weiter eingeschränkt werden, so die Anwältin.

Schattenpandemie: Gewalt gegen Frauen

Zur Situation von Frauen gab Saman an, dass Gewaltdelikte gegen das weibliche Geschlecht und häusliche Gewalt in der Corona-Zeit drastisch zugenommen haben. Insbesondere in den Monaten März und April sei zu erkennen gewesen, dass Frauen nebst der Corona-Pandemie auch inmitten einer Epidemie der patriarchalischen Gewalt steckten. „Quarantänen und Kontaktbeschränkungen haben in der Krise zu einem massiven Anstieg männlicher Gewalt geführt. Das ist einerseits darauf zurückzuführen, dass verurteilte Gewalttäter im Zuge der Änderungen im Strafvollzug [„Corona-Amnestie“] aus dem Gefängnis entlassen wurden. Anderseits finden Diskussionen über einen möglichen Ausstieg aus der Istanbuler Konvention statt, die von der Türkei ratifiziert wurde, um geschlechtsspezifische Gewalt zu bekämpfen und Mechanismen für Präventionsmaßnahmen sowie Hilfsangebote zu schaffen. Das Abkommen zu kündigen, während die Situation von Frauen immer unerträglicher wird, bedeutet faktisch, Gewalt gegen Frauen und Femizide zu legitimieren und zu fördern“, erklärte Saman.

Corona-Amnestie und Isolation auf Imrali

Ungeachtet heftiger nationaler und internationaler Kritik hatte die islamistisch-nationalistische Regierungskoalition aus AKP und MHP im April ein Gesetz verabschiedet, das – so lautete die offizielle Begründung – die überfüllten Gefängnisse durch eine Amnestie entlasten soll. Etwa 100.000 Häftlinge wurden durch die sogenannte Corona-Amnestie vorzeitig aus den Gefängnissen entlassen. Die politischen Gefangenen, darunter auch der PKK-Gründer Abdullah Öcalan, wurden allerdings von der neuen gesetzlichen Regelung ausgenommen. Saman gab an, dass auf der Gefängnisinsel Imrali, auf der Öcalan seit 21 Jahren inhaftiert ist, weiterhin ein rechtswidriges System ohne legale Grundlage herrscht. „Die verschärfte Isolation wurde bis auf ein Telefongespräch mit Familienangehörigen sowohl Abdullah Öcalan als auch seine drei Mitgefangenen betreffend aufrechterhalten. Trotz der Pandemie haben Anwälte und Verwandte nach wie vor keinen Zugang in das Inselgefängnis. Dies stellt einen eklatanten Verstoß gegen die Menschenrechte dar. Zudem besteht ein direkter Zusammenhang zwischen der anhaltenden Isolation auf Imrali und der von Konflikten und Spannungen geladenen Atmosphäre in Nordkurdistan“, sagte Saman.

Versammlungsverbot für Angehörige von „Verschwundenen“

In die lange Kette der Menschenrechtsverletzungen reihte sich im ersten Halbjahr 2020 auch wieder das willkürliche Verbot der Mahnwachen des IHD in Amed ein. Bereits seit dem 1. September 2018 sind die wöchentlichen Sit-Ins von Angehörigen in Gewahrsam „verschwundener“ Menschen, die vor dem Menschenrechtsdenkmal im Koşuyolu-Park unter dem Motto „Die Verschwundenen finden – Die Täter bestrafen“ stattfanden, verboten. Ein Ende der Verfügung, die durch das Provinzgouverneursamt erteilt wurde, ist nicht in Sicht.

Angriffe auf Gefallenenfriedhöfe

Des Weiteren wies Rehşan Bataray Saman auf die Angriffe staatlicher Kräfte auf Guerillagräber hin. Schon seit Längerem geht die türkische Regierung wieder gezielt gegen Friedhöfe vor, auf denen Gefallene der kurdischen Befreiungsbewegung begraben sind. Die Methode ist seit dem Ende des Friedensprozesses zwischen der türkischen Regierung und der PKK im Jahr 2015 wieder fester Bestandteil des schmutzigen Krieges gegen die kurdische Bevölkerung. Regelmäßig werden Friedhöfe von der Armee verwüstet, Grabsteine zertrümmert und Ruhestätten geschändet – oft im Anschluss an Militäroperationen. Saman bezifferte die Zahl der Angriffe auf Guerillafriedhöfe mit mindestens acht.

Dieses Jahr wurde zudem bekannt, dass die Ende 2017 nach der Zerstörung des Gefallenenfriedhofs Garzan in der nordkurdischen Provinz Bedlîs (Bitlis) verschleppten Leichen von über 280 Kämpferinnen und Kämpfern am Kilyos-Friedhof in der Nähe von Istanbul in Plastikboxen unter einem Gehweg begraben wurden. Saman sagte, dass dieses Vorgehen weder mit dem humanitären Völkerrecht noch mit religiösen Vorstellungen vereinbar sei.

Zahlen und Fakten zu Verstößen gegen das Recht auf Leben

Der IHD-Amed hat zwischen Januar und Juni zahlreiche Verletzungen des Rechts auf Leben erfasst. Unter das Etikett „willkürliches Töten“ fallen ein Toter und ein Verletzter. In beiden Fällen waren die Schützen sogenannte Sicherheitskräfte. Zwei Gefangene sind in Haft gestorben. Drei Soldaten bzw. Wehrpflichtige wurden auf verdächtige Weise tot aufgefunden, ein Politiker wurde erschossen, ein Journalist und drei Gesundheitsbedienstete wurden durch Schüsse verletzt. Eine weitere Person wurde in Grenznähe erschossen, dreizehn weitere Menschen sind im Grenzgebiet erfroren. Bei der Explosion einer Mine wurde ein Kind getötet. Außerdem wurden 19 Zivilist*innen auf verdächtige Weise tot aufgefunden. Dabei handelt es sich um drei Minderjährige, zwölf Frauen und vier Männer.

In unmittelbaren Konfliktgebieten traten ebenfalls Verstöße auf: In drei Großstädten wurden die Gebiete innerhalb der Grenzen von dreizehn verschiedenen Bezirken acht Mal zu Sondersicherheitsgebieten erklärt. In einigen Regionen wurden die Verfügungen regelmäßig erweitert. In 62 Dörfern oder Weilern wurden insgesamt sieben Mal Ausgangssperren erteilt. Der Leichnam eines Guerillakämpfers wurde seinen Angehörigen per Post in einer Kiste zugeschickt. Außerdem wurde ein Massengrab mit den Gebeinen von 40 Menschen entdeckt, bei denen es sich vermutlich um Zivilist*innen handelt, die in den 1990er Jahren von staatlichen Kräften verschleppt und ermordet wurden.

Gewalt gegen Frauen und Kinder

Nach Angaben des IHD haben sich 20 Frauen in Nordkurdistan in der ersten Hälfte dieses Jahres das Leben genommen. Eine weitere Frau überlebte einen Suizidversuch nur knapp. 14 Frauen wurden Opfer eines Femizids, in dreizehn weiteren Fällen überlebten die Opfer. Mindestens eine Frau musste sexualisierte Gewalt erfahren. Acht Frauen wurden „bei Angriffen im gesellschaftlichen Leben“ getötet, sechs Frauen wurden aufgrund zugefügter Gewalt verletzt. Eine Frau wurde zur Prostitution gezwungen.

Die Fallzahlen hinsichtlich der Kinder in Nordkurdistan ist ebenfalls schockierend. Drei Minderjährige beendeten dem IHD zufolge ihr Leben, ein Kind wurde Opfer tödlicher Gewalt im häuslichen Umfeld, drei weitere erlitten denselben Tod außerhalb der Familie, vier wurden schwer verletzt. 206 Kinder wurden sexuell missbraucht, davon zwei von einem Familienmitglied. Zwei Kinder erlitten Gewalt in der Schule.

Fälle von Folter

Mindestens zwei Menschen wurden in Gewahrsam gefoltert, 61 Personen erfuhren auf der Straße oder bei Durchsuchungen in den eigenen vier Wänden Folter und Gewalt durch Sicherheitskräfte. In 22 weiteren Folterfällen waren die Opfer Gefängnisinsassen. Sieben Personen versuchte die Polizei als Agenten anzuwerben, in 22 weiteren Fällen kam es zu Bedrohungen durch Sicherheitsbehörden und ihre Angehörigen.

Politischer Vernichtungsfeldzug

769 politisch aktive Menschen wurden von der Polizei in Gewahrsam genommen, davon 16 Minderjährige. 132 Personen wurden inhaftiert, davon zwei Minderjährige. Acht Personen kamen in Hausarrest, in 638 Wohnungen und Büros gab es zudem Hausdurchsuchungen. Gegen 33 Personen wurden Ermittlungen eingeleitet, 71 weitere sahen sich mit einer Anklage konfrontiert. In insgesamt elf Verfahren wurden 121 Personen, darunter Politiker*innen, Journalist*innen und Angestellte im öffentlichen Dienst, zu hohen Haft- und Geldstrafen verurteilt. Zwei Parteigebäude, zwei Vereine und ein Rathaus wurden polizeilich gestürmt. Das Gebäude einer politischen Institution (KCD/DTK) wurde versiegelt.

Verstöße in den Gefängnissen

441 politische Gefangene wurden gegen ihren Willen in andere Haftanstalten verlegt. 35 Gefangene mussten Verstöße gegen ihr Recht auf Gesundheit über sich ergehen lassen. Mindestens 14 Gefängnisinsassen wurden in isolierten Einzelzellen festgehalten. Gegen vier Gefangene wurde Anklage erhoben.

„Arbeitsunfälle“ und Zwangsverwaltungen

Der IHD hat auch Arbeitsmorde infolge ungesicherter Beschäftigung gezählt. So kamen sechs Arbeiter ums Leben, zwei weitere wurden verletzt. 418 Menschen wurden entlassen und 17 des Amtes enthoben. Drei öffentlich Beschäftigte wurden aus ihrem Wohnort verbannt. Im Zuge der staatlich verordneten Zwangsverwaltung in den ehemals von der HDP (Demokratische Partei der Völker) geführten Rathäusern wurden zwischen Januar und Juni dreizehn Stadtparlamente und zehn Bezirksparlamente beschlagnahmt. Der vollständige Bericht ist unter folgendem Link abrufbar: