Im Rahmen des von der Generalstaatsanwaltschaft Diyarbakir (kurd. Amed) geführten Ermittlungsverfahrens gegen den zivilgesellschaftlichen Dachverband „Demokratischer Gesellschaftskongress” (kurd. Kongreya Civaka Demokratîk, KCD, türk. Demokratik Toplum Kongresi, DTK) hat ein türkisches Gericht in Amed gegen 23 Personen wegen Terrorvorwürfen Untersuchungshaft angeordnet. Betroffen sind neben der 70 Jahre alten Friedensmutter Makbule Özbek außerdem noch Mehmet Güngörmüş, Fesih Balbey, Emrullah Zümrüt, Adil Ercan, Mustafa Alımterin, Tevfik Kaçar, Yıldız Damla, Enver Çelik, Erdal Bayram, Fedai Akar, Jiyan Taş, Leyla Bağırtır, Mehmet Cahit Şık, Mehmet Cahit Ay, Ayten Tekeş, Arin Zümrüt, Rojda Barış, Nesrin Şanlı, Piran Başkurt, Hüseyin Kaya, Mehmet Şengül und Ümran Baturay. Ihnen allen wird „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“ vorgeworfen. Weitere 22 Personen, die im Zuge der Festnahmewelle festgenommen worden waren, sind gegen Meldeauflagen und ein Ausreiseverbot auf freien Fuß gesetzt worden.
Zerschlagung der kurdischen Zivilgesellschaft
Im Zuge des Ermittlungsverfahrens gegen den KCD/DTK sind seit vergangener Woche 45 Politiker*innen, Journalist*innen, Rechtsanwält*innen, Gewerkschafter*innen und Aktivist*innen bei landesweiten Razzien festgenommen worden. Gegen weitere 20 Personen wird gefahndet. Grundlage des Verfahrens sollen Daten sein, die vor etwa zwei Jahren bei einer polizeilichen Razzia in den Räumlichkeiten der NGO sichergestellt wurden. Die Operation richte sich gegen „Personen, die im Namen der Organisation handeln, für sie aktiv sind oder in Kontakt mit Organisationsmitgliedern stehen“. Was den Betroffenen konkret zur Last gelegt wird, ist nicht bekannt, da die Ermittlungsakte unter Geheimhaltung gestellt wurde. Das Gebäude des Dachverbands in Amed ist am Freitag auf Anordnung der Staatsanwaltschaft amtlich versiegelt worden, vor den Räumlichkeiten hat die Polizei Barrieren aufgestellt.
Makbule Özbek saß bereits knapp fünf Jahre im Gefängnis
Was will die Regierung vom KCD/DTK?
Der Demokratische Gesellschaftskongress fungiert als Dachverband politischer Parteien, zivilgesellschaftlicher Organisationen, religiöser Gemeinden sowie Frauen- und Jugendorganisationen. Er versteht sich als gesellschaftlicher Gegenentwurf zu staatlichen Strukturen, der – gestützt auf Räte- und Basisdemokratie –Konzepte zur Selbstorganisierung der Bevölkerung und Alternativen der kommunalen Selbstverwaltung erarbeitet. Der KCD besteht aus etwa 1000 Delegierten, von denen 60 Prozent durch die Bevölkerung direkt gewählt und 40 Prozent aus zivilgesellschaftlichen Organisationen benannt werden, und ist in Kommissionen gegliedert. Sowohl innerhalb des Dachverbands wie auch in den Stadtteilräten und Stadträten gibt es keine Frauenquote, sondern eine Geschlechterquote. Das bedeutet, dass der Anteil von Frauen beziehungsweise Männern 40 Prozent nicht unterschreiten darf.
Von Öcalan für demokratische Gesellschaftsorganisierung vorgeschlagen
Bereits im Jahr 2005 von Abdullah Öcalan als Projekt für die demokratische Organisierung der Gesellschaft vorgeschlagen, wurden zunächst große Diskussionsveranstaltungen durchgeführt, bis im Folgejahr die erste Vollversammlung organisiert wurde. Am 14. Juli 2011 fand in Amed ein Kongress mit über 800 Teilnehmenden aller ethnischen, politischen und religiösen Strukturen in Kurdistan statt. An die gemeinsame Erklärung der Versammlung anschließend wurde die Demokratische Autonomie ausgerufen. In dem veröffentlichten Modellentwurf werden acht Dimensionen aufgeführt: die politische, die juristische, die der Selbstverteidigung, die kulturelle, die soziale, die wirtschaftliche, die ökologische und die diplomatische. Die Satzung richtet sich nicht nach den Gesetzen der Türkei, sondern nimmt die demokratische Teilhabe der Bevölkerung als Grundlage.
Langjährige Zusammenarbeit der Regierung mit KCD beim Lösungsprozess
Obwohl der KCD als höchstes Gremium der Demokratischen Autonomie unmittelbar nach seinem Gründungskongress kriminalisiert und mit Ermittlungsverfahren überzogen wurde, arbeitete die türkische Regierung zwischen 2005 und 2014 intensiv mit dem Dachverband zusammen, um gemeinsam den damals möglichen Friedensprozess zu verhandeln. Der KCD wurde von der AKP sogar gebeten, an einer neuen Verfassung für die Türkei mitzuarbeiten. Der damalige Ko-Vorsitzende Hatip Dicle gehörte zudem zur sogenannten „Imrali-Delegation“, die im Rahmen des Lösungsprozesses eine Vermittlerrolle zwischen Abdullah Öcalan und der türkischen Regierung eingenommen hatte. Auch nachdem der damalige Ministerpräsident und heutige Staatschef Recep Tayyip Erdoğan im Sommer 2015 die Friedensverhandlungen einseitig abbrach, wurde der KCD nicht verboten. Ein entsprechendes Verfahren scheint nun jedoch in Vorbereitung zu sein.