Im April fand im nordostsyrischen Qamişlo die Konferenz für Einheit und gemeinsame Haltung der Kurd:innen in Rojava statt. Ein zentrales Ergebnis war die Entscheidung, eine kurdische Delegation für künftige Gespräche mit der syrischen Übergangsregierung in Damaskus zu bilden. Diese zehnköpfige Delegation setzt sich aus Vertreter:innen der Demokratischen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (DAANES), der PYD, ENKS und weiterer kurdischer Parteien sowie der Frauenbewegung und unabhängigen Persönlichkeiten zusammen. Grundlage ihrer Arbeit ist ein von allen beteiligten Kräften angenommenes Dokument, das eine demokratische und inklusive Zukunft Syriens skizziert. Aldar Xelîl, Mitglied des Exekutivrats der Partei der Demokratischen Union (PYD), gehört der Delegation an. Im Interview erläutert er die Prinzipien der Arbeit der Delegation und analysiert die strukturellen Ursachen der syrischen Krise – mit einem klaren Plädoyer für ein föderal-dezentralisiertes Staatsmodell.
Können Sie die Zusammensetzung sowie die Aufgaben der kurdischen Delegation näher erläutern?
Im Rahmen der Konferenz zur kurdischen nationalen Einheit und gemeinsamen Haltung wurde ein grundlegendes Dokument verabschiedet, das die politischen Leitlinien der kurdischen Kräfte für ein zukünftiges, demokratisch verfasstes Syrien definiert. Dieses Dokument legt nicht nur die Prinzipien für den Aufbau eines pluralistischen Staatswesens fest, sondern enthält auch konkrete Vorschläge zur Lösung der kurdischen Frage im Kontext der syrischen Staatlichkeit. Es wurde von sämtlichen kurdischen Parteien und politischen Kräften als gemeinsame Grundlage anerkannt.
Infolgedessen versteht sich die Aufgabe der Delegation nicht als das Ausarbeiten neuer politischer Positionen, sondern vielmehr als die konsequente Repräsentation und Verteidigung der in besagtem Dokument verankerten Grundsätze. Die Delegation setzt sich aus Repräsentant:innen diverser politischer Gruppierungen zusammen – darunter Vertreter:innen der PYD, des kurdischen Oppositionsbündnisses ENKS, der Autonomieverwaltung Nord- und Ostsyriens sowie von außerhalb dieser Region agierenden Parteien. Auch eine unabhängige Person und Vertreterinnen der Frauenbewegung sind Teil des Gremiums. Die Mitgliederzahl beläuft sich auf insgesamt zehn Personen.
Ziel ist es, in politischen Verhandlungen insbesondere das spezifische gesellschaftspolitische Modell Nord- und Ostsyriens zur Geltung zu bringen – ein Modell, das sich signifikant vom zentralistischen Charakter anderer syrischer Regionen unterscheidet. Die hier aufgebauten demokratischen Strukturen, der partizipative Charakter der Verwaltung, die zentrale Rolle der Frauen sowie autonome Sicherheits- und Verteidigungsstrukturen bilden ein Alleinstellungsmerkmal, das bei jeder Verhandlung berücksichtigt werden muss. Vor diesem Hintergrund agiert die Delegation mit hoher politischer Verantwortung, da jede Entscheidung potenzielle Auswirkungen auf die syrienweite Transformation hin zu einer pluralistischen Ordnung haben kann.
Gibt es bereits einen konkreten Zeitplan für Gespräche mit Damaskus? Welche Themen sollen dort erörtert werden?
Vor wenigen Tagen reiste eine Delegation der Autonomieverwaltung Nord- und Ostsyriens nach Damaskus. Sie setzte sich aus Vertreter:innen der verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen der Region – insbesondere Kurd:innen, Araber:innen und Suryoye – zusammen. In Damaskus wurden erste Sondierungsgespräche geführt; die Delegation ist inzwischen zurückgekehrt. Aufgrund des gegenwärtigen Opferfestes (Eid al-Adha) pausieren die Kontakte derzeit, doch nach den Feiertagen werden weitere Entwicklungen erwartet.
Ein wesentliches Ergebnis der bisherigen Gespräche war die Erkenntnis, dass einzelne Themenbereiche durch spezialisierte Kommissionen bearbeitet werden sollten. So sollten militärische Fragestellungen von militärischen Expert:innen diskutiert werden, während politische Anliegen, insbesondere zur kurdischen Frage, den Vertreter:innen der entsprechenden Parteien überlassen bleiben. Auch für Themen wie Verwaltung, Wirtschaft oder Bildung ist die Einrichtung eigenständiger Fachausschüsse vorgesehen. Derzeit liegt kein festes Datum für ein erneutes Treffen in Damaskus vor, jedoch besteht auf Seiten der Delegation Bereitschaft, sich jederzeit auf ein solches vorzubereiten.
Welches Verständnis von gesellschaftlicher Repräsentation verfolgt die Delegation hinsichtlich nicht-kurdischer Bevölkerungsgruppen?
Das auf der Konferenz verabschiedete Grundsatzdokument versteht sich ausdrücklich nicht als ein nur auf die Belange der Kurd:innen beschränktes Projekt. Vielmehr thematisiert es die Frage, wie ein Syrien nach dem Zusammenbruch des Baath-Regimes und der vollzogenen gesellschaftlichen Umwälzung beschaffen sein soll – und zwar für alle ethnischen, religiösen und kulturellen Gruppen. Syrien ist ein multiethnisches und multireligiöses Gemeinwesen, in dem Drus:innen, Alawit:innen, sunnitische Muslime, Araber:innen, Kurd:innen, Suryoye, Ezid:innen und viele andere leben. Ziel ist es daher, ein demokratisches Syrien zu schaffen, das allen diesen Gruppen gleiche Rechte und Mitbestimmung garantiert.
Ein häufiger Trugschluss besteht darin, unser Projekt lediglich auf die kurdische Frage zu reduzieren. Tatsächlich aber lässt sich eine nachhaltige Lösung dieser Frage nur im Rahmen einer allgemeinen Demokratisierung Syriens erreichen. Die Vorstellung, die Rechte der Kurd:innen im Nordosten des Landes zu gewährleisten, während andere Gruppen – etwa Drus:innen in Suweida oder oppositionelle Sunnit:innen – weiterhin Repression erfahren, widerspricht unserem Grundverständnis. Demokratische Rechte müssen für alle gelten, nicht selektiv. Wir plädieren daher für ein dezentralisiertes und pluralistisches Staatsmodell.
Auf welche historischen Erfahrungen beziehen Sie sich in diesem Zusammenhang?
Seit der Machtübernahme durch das Baath-Regime im Jahr 1963 – und in gewisser Weise auch schon zuvor – war Syrien durch ein autoritär-zentralistisches Staatsverständnis geprägt. Dieses Modell des Nationalstaats mit starker Exekutive ließ keine Räume für gesellschaftliche Partizipation, kulturelle Vielfalt oder regionale Selbstbestimmung. Viele der heutigen Konflikte haben hierin ihren Ursprung. Die derzeitige Revolution stellt einen Bruch mit dieser Vergangenheit dar. Sie verlangt neue politische Instrumente, denn mit alten, zentralistischen Mechanismen lassen sich keine neuen, demokratischen Verhältnisse schaffen.
Die internationalen Vergleichsdaten bestätigen diese Analyse: Staaten mit zentralistischen Machtstrukturen sind überproportional häufig von Armut, politischen Krisen und gesellschaftlicher Instabilität betroffen. Staaten mit föderalen oder dezentralen Modellen hingegen weisen tendenziell eine höhere politische Stabilität, gesellschaftliche Partizipation und wirtschaftliche Entwicklung auf. Daraus ergibt sich für uns die Forderung, auch in Syrien ein dezentrales Modell zu etablieren.
Die Forderung nach Dezentralisierung wird mitunter als Wunsch nach Sezession der Kurd:innen interpretiert. Wie entgegnen Sie dieser Kritik?
Diese Annahme ist falsch. Unsere Forderung nach Dezentralisierung bezieht sich explizit auf das gesamte syrische Staatsgebiet. Wir sprechen uns für ein gemeinsames, demokratisches Syrien aus, in dem alle Bevölkerungsgruppen gleichberechtigt leben können. Kurd:innen sind integraler Bestandteil der syrischen Gesellschaft. Gleichwohl fordern wir, dass ihre Sprache und Kultur anerkannt werden – beispielsweise durch die Anerkennung des Kurdischen als eine der offiziellen Sprachen Syriens, die Aufhebung repressiver Maßnahmen gegen kurdische Kultureinrichtungen und die Schaffung von gleichwertigen Lebensbedingungen.
Unser politisches Projekt zielt darauf, in Damaskus nicht nur die kurdische Sichtweise darzulegen, sondern einen umfassenden Entwurf für ein neues Syrien nach der Revolution zur Diskussion zu stellen. Dabei wird deutlich: Die kurdische Frage ist zwar eine von vielen Herausforderungen – aber sie kann nur im Kontext einer allgemeinen gesellschaftlichen Transformation gelöst werden. Unser Vorschlag zielt auf die Etablierung eines Modells, das alle gesellschaftlichen Gruppen mit einbezieht.
Was ist die Grundlage für diesen Vorschlag?
Syrien blickt auf eine jahrtausendealte Geschichte gemeinschaftlichen Zusammenlebens zurück. Es ist kein Zufall, dass es als „Wiege der Zivilisation“ bezeichnet wird – zahlreiche Kulturen und Religionen haben hier koexistiert. Diese historische Realität steht im Kontrast zum repressiven Nationalstaatsmodell der jüngeren Vergangenheit. Daher fordern wir, die in Syrien historisch gewachsene Pluralität in ein modernes, demokratisches Staatswesen zu überführen.
Unsere politische, soziale und kulturelle Handlungsfähigkeit sollte in ihrer Gesamtheit zur Geltung kommen, um gemeinsam ein neues, demokratisches Syrien aufzubauen – ein Syrien, das der historischen und gesellschaftlichen Realität des Landes entspricht.