Im Rahmen des Ermittlungsverfahrens der Generalstaatsanwaltschaft von Diyarbakir (kurd. Amed) gegen die kurdische Zivilgesellschaft sind bisher 42 Aktivist*innen bei landesweiten Razzien festgenommen worden. Zur Fahndung ausgeschrieben sind insgesamt 64 Personen. Grundlage des Verfahrens seien Daten, die vor etwa zwei Jahren bei einer polizeilichen Razzia in den Räumlichkeiten der NGO „Demokratischer Gesellschaftskongress“ (kurd. Kongreya Civaka Demokratîk -KCD, türk. Demokratik Toplum Kongresi -DTK) sichergestellt wurden, heißt es. Die Operation richte sich gegen Personen, die „im Namen der Organisation handeln, für sie aktiv sind oder in Kontakt mit Organisationsmitgliedern stehen“. Was ihnen konkret zur Last gelegt wird, ist unbekannt, da die Ermittlungsakte unter Geheimhaltung gestellt wurde. Bei der Großoperation am 9. Oktober 2018 waren in neun Provinzen insgesamt 142 Personen, unter ihnen Politiker*innen und Journalist*innen, festgenommen worden. Viele landeten anschließend in Untersuchungshaft.
Bei den am Freitag früh festgenommenen Personen, die im Polizeipräsidium von Diyarbakir festgehalten werden, handelt es sich um: Jiyan Taş und Hüseyin Kaya (Mitglieder im Rat des KCD), Rojda Barış (Vorstandsmitglied Frauenverein Rosa), Naşide Toprak (abgesetzte Ko-Bürgermeisterin von Farqîn, die sich bis heute früh unter Hausarrest befand), Fesih Balbey (HDP-Bezirksratsmitglied in Hezro), Enver Çelik und Aynur Aktar (Bezirksratsmitglieder in Bismîl), Enver Temiz aus Çinar, Yıldız Damla (Vorstandsmitglied beim Hilfsverein für Familien von Gefallenen MEBYA-DER), Leyla Bağatır (Mitglied im Parteirat der HDP-Mitgliedspartei DBP), Ayten Tekeş (Mitglied der Gewerkschaft der kommunalen Beschäftigen TÜM BEL-SEN), Suphi Izol (Provinzvorsitzender der Bürobeschäftigtengewerkschaft BES), Arin Zümrüt (Vorstandsmitglied der Ingenieurskammer Amed), Mahfuz Karaaslan (Vorstandsmitglied des Provinzverbands der Gewerkschaft der Beschäftigten im Gesundheits- und Sozialwesen SES), Ferhat Erkuş (SES-Mitglied in Amed), Makbule Özbek (Aktivistin der Initiative der Friedensmütter), Berdan Acun (Rechtsanwalt), Cahit Ay (HDP-Kreisvorsitzender in Karaz), Selva Akkoyun (ehemalige HDP-Kreisvorsitzende in Pasûr), Gurbet Çakar (aus Rezik), Mehmet Sağlam, Fatma Bülbül und Tahir Turan (aus Farqîn) und Azad Can (Student an der medizinischen Fakultät Dicle).
Inzwischen ist auch die Razzia beim KCD in Amed beendet worden. Das Gebäude wurde auf Anordnung der Staatsanwaltschaft amtlich versiegelt, vor den Räumlichkeiten hat die Polizei Barrieren aufgestellt.
Was will die Regierung vom KCD/DTK?
Der Demokratische Gesellschaftskongress fungiert als Dachverband politischer Parteien, zivilgesellschaftlicher Organisationen, religiöser Gemeinden sowie Frauen- und Jugendorganisationen. Er versteht sich als gesellschaftlicher Gegenentwurf zu staatlichen Strukturen, der – gestützt auf Räte- und Basisdemokratie –Konzepte zur Selbstorganisierung der Bevölkerung und Alternativen der kommunalen Selbstverwaltung erarbeitet. Der KCD besteht aus etwa 1000 Delegierten, von denen 60 Prozent durch die Bevölkerung direkt gewählt und 40 Prozent aus zivilgesellschaftlichen Organisationen benannt werden, und ist in Kommissionen gegliedert. Sowohl innerhalb des Dachverbands wie auch in den Stadtteilräten und Stadträten gibt es keine Frauenquote, sondern eine Geschlechterquote. Das bedeutet, dass der Anteil von Frauen beziehungsweise Männern 40 Prozent nicht unterschreiten darf.
Von Öcalan für demokratische Gesellschaftsorganisierung vorgeschlagen
Bereits im Jahr 2005 von Abdullah Öcalan als Projekt für die demokratische Organisierung der Gesellschaft vorgeschlagen, wurden zunächst große Diskussionsveranstaltungen durchgeführt, bis im Folgejahr die erste Vollversammlung organisiert wurde. Am 14. Juli 2011 fand in Amed ein Kongress mit über 800 Teilnehmenden aller ethnischen, politischen und religiösen Strukturen in Kurdistan statt. An die gemeinsame Erklärung der Versammlung anschließend wurde die Demokratische Autonomie ausgerufen. In dem veröffentlichten Modellentwurf werden acht Dimensionen aufgeführt: die politische, die juristische, die der Selbstverteidigung, die kulturelle, die soziale, die wirtschaftliche, die ökologische und die diplomatische. Die Satzung richtet sich nicht nach den Gesetzen der Türkei, sondern nimmt die demokratische Teilhabe der Bevölkerung als Grundlage.
Langjährige Zusammenarbeit der Regierung mit KCD beim Lösungsprozess
Obwohl der KCD als höchstes Gremium der Demokratischen Autonomie unmittelbar nach seinem Gründungskongress kriminalisiert und mit Ermittlungsverfahren überzogen wurde, arbeitete die türkische Regierung zwischen 2005 und 2014 intensiv mit dem Dachverband zusammen, um gemeinsam den damals möglichen Friedensprozess zu verhandeln. Der KCD wurde von der AKP sogar gebeten, an einer neuen Verfassung für die Türkei mitzuarbeiten. Der damalige Ko-Vorsitzende Hatip Dicle gehörte zudem zur sogenannten „Imrali-Delegation“, die im Rahmen des Lösungsprozesses eine Vermittlerrolle zwischen Abdullah Öcalan und der türkischen Regierung eingenommen hatte. Auch nachdem der damalige Ministerpräsident und heutige Staatschef Recep Tayyip Erdoğan im Sommer 2015 die Friedensverhandlungen einseitig abbrach, wurde der KCD nicht verboten. Ein entsprechendes Verfahren scheint nun jedoch in Vorbereitung zu sein.