Vier vermeintliche „DTK-Delegierte” in Semsûr verhaftet

Im nordkurdischen Semsûr sind vier Oppositionelle verhaftet worden, weil sie Delegierte des DTK seien. Die Graswurzelbewegung ist die größte zivilgesellschaftliche Organisation in Kurdistan und legal, wird jedoch juristisch kriminalisiert.

Ein türkisches Gericht in der nordkurdischen Provinz Semsûr (türk. Adiyaman) hat Untersuchungshaft gegen vier Oppositionelle angeordnet. Neben Abuzer Küçükkelepçe (früherer Ko-Vorsitzender der Demokratischen Partei der Völker -HDP- auf Provinzebene) sind auch Rıza Açıkpayam (ehemaliges HDP-Vorstandsmitglied), Ayşegül Yücetaş (Vorsteherin der Zweigstelle der Bildungsgewerkschaft Eğitim Sen) und Celal Demirci (Provinzvorsitzender des Demokratisch-Alevitischen Vereins) betroffen. Sie alle waren am vergangenen Freitag in Semsûr im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens gegen den zivilgesellschaftlichen Zusammenschluss DTK festgenommen worden und befinden sich seit Mittwoch in einem örtlichen Hochsicherheitsgefängnis. Die Behörden werfen ihnen vor, Delegierte des DTK zu sein. Auch die Aktivistin Ebru Güngör Çul war fünf Tage lang in Polizeigewahrsam. Da sie ein Kind erwartet, verhängte das Gericht Meldeauflagen.

Der Demokratische Gesellschaftskongress DTK (kurd. Kongreya Civaka Demokratîk) fungiert als Dachverband politischer Parteien, zivilgesellschaftlichen Organisationen, religiösen Gemeinden sowie Frauen- und Jugendorganisationen. Er versteht sich als gesellschaftlicher Gegenentwurf zu staatlichen Strukturen, der – gestützt auf Räte- und Basisdemokratie –Konzepte zur Selbstorganisierung der Bevölkerung und Alternativen der kommunalen Selbstverwaltung erarbeitet. Der DTK besteht aus etwa 1000 Delegierten, von denen 60 Prozent durch die Bevölkerung direkt gewählt und 40 Prozent aus zivilgesellschaftlichen Organisationen benannt werden und ist in Kommissionen gegliedert. Sowohl innerhalb wie auch in den Stadtteilräten und Stadträten gibt es keine Frauenquote, sondern eine Geschlechterquote. Das bedeutet, dass der Anteil von Frauen beziehungsweise Männern 40 Prozent nicht unterschreiten darf.

Von Öcalan für demokratische Gesellschaftsorganisierung vorgeschlagen

Bereits im Jahr 2005 von Abdullah Öcalan als Projekt für die demokratische Organisierung der Gesellschaft vorgeschlagen, wurden zunächst große Diskussionsveranstaltungen durchgeführt, bis im Folgejahr die erste Vollversammlung organisiert wurde. Am 14. Juli 2011 fand in Amed (Diyarbakir) ein Kongress mit über 800 Teilnehmenden aller ethnischen, politischen und religiösen Strukturen in Kurdistan statt. An die gemeinsame Erklärung der Versammlung anschließend wurde die Demokratische Autonomie ausgerufen. In dem veröffentlichten Modellentwurf werden acht Dimensionen aufgeführt: die politische, die juristische, die der Selbstverteidigung, die kulturelle, die soziale, die wirtschaftliche, die ökologische und die diplomatische. Die Satzung richtet sich nicht nach den Gesetzen der Türkei, sondern nimmt die demokratische Teilhabe der Bevölkerung als Grundlage.

Langjährige Zusammenarbeit der Regierung mit DTK beim Lösungsprozess

Obwohl der DTK als höchstes Gremium der Demokratischen Autonomie unmittelbar nach seinem Gründungskongress kriminalisiert und mit Ermittlungsverfahren überzogen wurde, arbeitete die türkische Regierung zwischen 2005 und 2014 intensiv mit dem Dachverband zusammen, um gemeinsam den damals möglichen Friedensprozess zu verhandeln. Der DTK wurde von der AKP sogar gebeten, an einer neuen Verfassung für die Türkei mitzuarbeiten. Der damalige Ko-Vorsitzende Hatip Dicle gehörte zudem zur sogenannten „Imrali-Delegation“, die im Rahmen des Lösungsprozesses eine Vermittlerrolle zwischen Abdullah Öcalan und der türkischen Regierung eingenommen hatte. Auch nachdem der damalige Ministerpräsident und heute Staatschef Recep Tayyip Erdoğan im Sommer 2015 die Friedensverhandlungen einseitig abbrach, wurde der DTK nicht verboten. Ein entsprechendes Verfahren scheint nun jedoch in Vorbereitung zu sein.

Angepeiltes Ziel: Zerschlagung der kurdischen Zivilgesellschaft

Anfang Mai bestätigte der türkische Berufungsgerichtshof die Haftstrafe gegen die kurdische Politikerin Selma Irmak von sieben Jahren und sechs Monaten wegen „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“ – gemeint ist der DTK. Die 49-jährige Politikerin war zwischen 2015 und 2016 Ko-Vorsitzende des Dachverbands, der nach Auffassung des Gerichts „deckungsgleich“ mit der als „Terrororganisation“ verfolgten Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) sei. Die Richter warfen Irmak, die zur Zeit ihres DTK-Vorsitzes auch Abgeordnete der HDP war vor, ihre Tätigkeit als Politikerin „missbraucht“ zu haben, weil sie das „Paradigma von Stadträten, einer Akademie für demokratische Politik, dem Demokratischen Gesellschaftskongress und der Kooperativbewegung“ verbreitet und damit eine „Terrororganisation“ unterstützt hätte. Völlig gleich entschied der Berufungsgerichtshof bereits im Februar im Fall von Aysel Tuğluk. Zudem wurden alle Aktivitäten aus den Jahren zwischen 2007 und 2014 des nach wie vor legalen DTK gerichtlich für illegal erklärt. Die Anwält*innen von Selma Irmak bereiten eine Klage vor dem Verfassungsgericht vor. Sollte der Staatsgerichtshof das Urteil nicht aufheben sondern bestätigen, würde der DTK als rechtswidrige Struktur anerkannt werden. Der Zerschlagung der kurdischen Zivilgesellschaft stünde somit nichts mehr im Wege.