„Entwurf für Vollzugsgesetz beruht auf Feindstrafrecht“

In der Türkei ist ein umstrittener Gesetzentwurf ins Parlament eingebracht worden, der politische Gefangene von Verbesserungen im Vollzug ausschließt. Wir haben mit dem kurdischen Rechtsanwalt Emrah Baran über die Pläne der AKP gesprochen.

Der Justizausschuss in der türkischen Nationalversammlung hat am Wochenende einen Entwurf der AKP/MHP-Regierungskoalition zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes verabschiedet, der noch in dieser Woche in der Generalversammlung des Parlaments debattiert werden soll. Durch die als „Corona-Amnestie“ bezeichnete Gesetzesänderung könnten 90.000 Häftlinge freikommen. Der Entwurf stößt im In- und Ausland auf breite Kritik, weil politische Gefangene von der Maßnahme ausgeschlossen sind und er somit im Widerspruch zum verfassungsmäßigen Grundsatz der Gleichheit steht. Wir haben mit dem Rechtsanwalt Emrah Baran von der Freiheitlichen Juristenvereinigung ÖHD (Özgürlük için Hukukçular Derneği) über die Pläne der türkischen Regierung gesprochen.

Der Justizausschuss im türkischen Parlament hat den Entwurf zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes angenommen. Von Seiten der Gesellschaft wurden dagegen Forderungen nach Gleichberechtigung im Vollzug laut. Diese Forderungen wurden nicht erfüllt. Was wird das Gesetz nun bringen?

Die AKP/MHP-Regierung begründet die Gesetzänderung allgemein damit, das Strafvollzugssystem insgesamt zu verbessern und die Gefangenen wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Aber dieser Entwurf liegt fern vom proklamierten Ziel. Er widerspricht dem in der Verfassung verankerten Gleichheitsgrundsatz und teilt die Menschen in „Bürger und Feinde“ auf. Statt das Feindstrafrecht aufzuheben, wird es durch diese Form der Diskriminierung vertieft. Der Gesetzentwurf enthält eine ganze Reihe von Regelungen, die sich nicht mit dem gesellschaftlichen Frieden vereinbaren lassen.

In den türkischen Gefängnissen befinden sich zehntausende politische Gefangene aufgrund von unklaren, vagen und willkürlichen Urteilen, wegen Straftatbeständen, die von den Gesetzen gar nicht definiert sind. Mit dem Gesetzentwurf werden als „Bürger“ betrachtete Gefangene auf Bewährung, unter Meldeauflagen oder mit anderen Formen der besonderen vorzeitigen Entlassung aus den Gefängnissen entlassen, während die politischen Gefangenen, also diejenigen, die als „Feinde, die es zu bekämpfen gilt“ betrachtet werden, aus dieser Regelung ausgenommen werden.

Was sind die entscheidenden Punkte in dem Gesetzentwurf?

Der Gesetzentwurf bezieht sich auf die Situation in Ländern wie England, Finnland oder Polen, wo die Hälfte der Gefängnisstrafen in Haftanstalten vollzogen wird. Er sieht vor, dass die Haftdauer dauerhaft um die Hälfte abgesenkt wird. Aber die politischen Gefangenen sind aus dieser Regelung ausgeschlossen. Deswegen könnten sie allenfalls eine Zweidrittelstrafregelung erhalten. Die in diesem Zusammenhang vorgesehene Änderung des Paragraphen 89 des Strafvollzugsgesetzes, der bisher besagte, dass für eine Entlassung nach Zweidritteln der Strafe wegen guter Führung die Bewertung des bisherigen Verhaltens eine Rolle spielt, sieht vor, dass die gesamte Haftdauer unter die Lupe genommen wird. Konkret soll es so aussehen, dass innerhalb von Sechsmonatsabständen unter dem Vorsitz der Generalstaatsanwaltschaft gemeinsam mit der Gefängnisverwaltung geprüft wird, ob sich der Gefangene gut führt oder nicht und ein entsprechender Bericht verfasst wird.

Was bedeutet das insgesamt?

Für die politischen Gefangenen bedeutet das, dass ihre Freilassung auf Bewährung oder unter Meldeauflagen anhand ihrer „guten Führung“, ihrer „Bereitschaft, sich in die Gesellschaft zu integrieren“, „des Risikos wieder Straftaten zu begehen“ und der „tätigen Reue“ bemessen werden soll. Aus diesem Grund laufen politische Gefangene mit den für Paragraph 89 vorgesehenen Änderungen Gefahr, dass die endgültige Entscheidung, ob sie unter bestimmten Bedingungen freigelassen werden können, ohne Einbeziehung der subjektiven Wahrnehmung der Behörden, abstrakt und willkürlich gefällt wird.

Außerdem sollen die Bewährungsfristen auf drei Jahre angehoben werden. Wie ist das zu betrachten?

Das bedeutet, dass eine Person, die etwa vor dem 30. März 2020 wegen eines Diebstahls zu sechs Jahren verurteilt wurde, nur wenige Tage in einer Haftanstalt zubringt. Oder eine Person, die wegen eines vor dem Stichtag begangenen Raubs zu zehn Jahren verurteilt wurde, muss nur zwei Jahre absitzen. Die politischen Gefangenen werden auch von dieser Regelung nicht profitieren können.

Und wie geht der Gesetzentwurf auf die Lage der alten und kranken Gefangenen ein?

In diesem Bereich ändert sich eigentlich nichts. Während auch für alte, schwerkranke oder behinderte Gefangene Verbesserungen der Vollzugsregelungen vorgesehen sind, werden die politischen Gefangenen von diesen ebenfalls ausgeschlossen. In der vorgeschlagenen Änderung des Paragraphen 110 des Strafvollzugsgesetzes sind Regelungen enthalten, die es Frauen, Minderjährigen und Alten ermöglichen sollen, ihre Strafen unter Hausarrest abzusitzen. Demnach soll es Frauen, Minderjährigen und Personen über 65 möglich sein, ein Jahr, Personen über 70 zwei Jahre und Personen über 75 vier Jahre ihrer Haftstrafe auf Entscheidung des Vollzugsrichters hin zu Hause abzusitzen. Aber wie gesagt, die politischen Gefangenen sind hier ausgenommen und werden nicht davon profitieren. Ähnliche Regelungen gibt es auch für kranke Gefangene und solche, die Betreuung benötigen. Aber Gefangene, die zu mehr als fünf Jahren verurteilt wurden, können, auch wenn sie schwer krank oder behindert sind, nicht von dieser Regelung profitieren. Darüber hinaus können politische Gefangene unter Bezugnahme auf Art. 16 Abs. 3 des Vollzugsgesetzes aus abstrakten und willkürlichen Gründen daran gehindert werden, diese besonderen Verfahren in Anspruch zu nehmen. Daher können wir sagen, dass der Entwurf weit davon entfernt ist, eine Lösung für die kranken Gefangene darzustellen.

Die Covid-19-Pandemie hat für eine gefährliche Situation in den Gefängnissen gesorgt. Was passiert in Bezug auf die Seuche in den Haftanstalten?

Die durch das Coronavirus verursachte Pandemie bedroht die Gesundheit und das Leben der Menschen im Gefängnis. Der zu solch einer Zeit eingebrachte Gesetzentwurf enthält leider keine ausreichenden Maßnahmen für die Gefangenen. Diejenigen, die sich im offenen Vollzug befinden oder das Recht haben, sich aus dem offenen Vollzug zu entfernen, sollen ihre Strafe für zwei Monate aussetzen. In Bezug auf die Gefangenen im geschlossenen Vollzug gibt es jedoch keinerlei solcher Maßnahmen im Gesetzentwurf. Der Staat ist in der Verantwortung, das Recht auf Leben und Gesundheit der Gefangenen zu schützen, aber er unternimmt nichts in den Gefängnissen, obwohl diese den Ort mit dem größten Ausbreitungsrisiko der Pandemie darstellen.

Ein anderer Punkt in dem Gesetzentwurf lautet, dass Personen, die bis zu 18 Monate Strafe erhalten, 40 Prozent dieser Strafe zu Hause absitzen können. Diese Regelung wird als Maßnahme für Personen, die wegen Meinungsäußerungen inhaftiert sind, bezeichnet. Was sagen Sie dazu?

Die Gesetzesänderung betrifft nicht nur die „Gedankenverbrechen“, sondern alle Straftaten. Die aktuell einjährige Bewährungszeit soll geändert werden. So war es bisher so, dass Gefangene nach kurzer Zeit, teilweise nach wenigen Tagen wegen „guter Führung“ auf Bewährung entlassen werden konnten. Zum Beispiel müssen Personen, die aus bestimmten Gründen zu einer anderthalbjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden sind, etwa sieben Monate im Gefängnis bleiben. Diese Regelung betrifft Straftatbestände wie „Beleidigung des Präsidenten“, „Verstoß gegen das Versammlungsgesetz“, „Volksverhetzung“ und andere die Meinungsfreiheit einschränkenden Paragraphen. Die Regelung bedeutet, dass diese Personen mindestens 40 Prozent ihrer Strafe in Haft verbringen müssen. Das stellt natürlich einen Verstoß gegen die von der Verfassung und der internationalen Menschenrechtskonvention geschützte Meinungsfreiheit dar.

Außerdem heißt es, dass nach dem Gesetzentwurf bestimmte Zeitungen nicht mehr ins Gefängnis gelassen werden. Was ist das für eine Regelung?

In dem Entwurf heißt es, dass Publikationen, die über keine ISSN oder ISBN verfügen und nicht von der Pressebehörde autorisiert sind, amtliche Mitteilungen zu veröffentlichen, nicht mehr an Gefangene weitergegeben werden. Dies schränkt die Informationsfreiheit der Gefangenen erheblich ein und richtet sich insbesondere gegen Zeitungen, die von der Pressebehörde mit Sanktionen belegt sind. Unserer Meinung nach soll verhindert werden, dass die Gefangenen oppositionelle Informationen erhalten.

Zusammengefasst können wir sagen, dass der Gesetzentwurf die politischen Gefangenen von einer Verbesserung des Strafvollzugssystems ausschließt. Aus diesem Grund widerspricht er dem verfassungsmäßigen Grundsatz der Gleichheit und damit auch den Grundprinzipien der Rechtsstaatlichkeit. Wir können konstatieren, dass dieser Entwurf eine Reihe von Regelungen enthält, welche zwischen „Bürgern“ und „Feinden“ unterscheiden.